Förderung des Sehvermögens, Hilfestellung für das Meistern des Alltags.

Die grössten Entwicklungsschritte des Sehens geschehen während der ersten Lebensmonate, bezeichnet als sensible Phase. Ist ein Kind blind, sehbehindert oder kann es aus irgendeinem Grund die visuellen Eindrücke nicht genügend verarbeiten und umsetzen, kann das Auswirkungen auf die verschiedensten Bereiche der Entwicklung haben. Deshalb ist es wichtig, dass sehbehinderte Kinder frühzeitig erfasst und begleitet werden. Einerseits weil der visuelle Ausfall die Gesamtentwicklung beeinflusst, und anderseits weil so die sensible Phase der Sehentwicklung am besten positiv beeinflusst werden kann.

Von Petra Persello, Fachfrau Low Vision, stiftungNETZ

Ein Kleinkind spielt mit einer Perlenkette, die die Heilpädagogin ihm reicht. Heilpädagogische Früherziehung für Kinder mit einer Sehbehinderung wird in der ganzen Schweiz angeboten. Wie das Kind und die Familie zu diesem Angebot kommen, ist in den Kantonen unterschiedlich geregelt. Im Aargau beispielsweise können die Eltern selber oder Kinder- und Augenärzte, sowie weitere Fachpersonen (Physiotherapeuten, Kindergartenlehrpersonen, Spielgruppenleiterinnen, usw.) mit Einverständnis der Erziehungsverantwortlichen das Kind für dieses Angebot anmelden. Die stiftungNETZ nimmt im Aargau solche Anmeldungen direkt bis zum Ende des ersten Semesters im zweiten Kindergartenjahr entgegen.

Ein entscheidender Kernprozess in der heilpädagogischen Früherziehung für Kinder mit einer Sehbehinderung ist die pädagogisch-funktionelle Low Vision Abklärung. Hierbei handelt es sich um die Ermittlung der visuellen Fähigkeiten. Anhand von normierten Tests und gezielten Beobachtungen wird der momentane Stand der Sehentwicklung eines Kindes erhoben und das visuelle Sehverhalten eingeschätzt. Neben der Einschätzung des kindlichen Sehvermögens werden auch visuelle Wahrnehmungsleistungen überprüft, wie beispielsweise die Form- oder Grössenwahrnehmung.

Eingangs wurde erwähnt, dass das Sehvermögen auch andere Entwicklungsbereiche des Kindes beeinflusst. Beispielweise sind die Bewegungsentwicklung eines Kindes und sein Sehvermögen eng miteinander verknüpft. Sieht ein Baby den Gegenstand neben sich nicht – warum sollte es sich auf die Seite drehen? Ein Kind lernt vieles durch Beobachten und Nachahmen. Wenn es schlecht sieht, kann es viele Zusammenhänge nicht erkennen und Abläufe von Handlungen bleiben ihm verschlossen. In wöchentlichen Förderstunden, die in der Regel zu Hause in gewohnter Umgebung stattfinden, lernen die Kinder durch gezielte Angebote in spielerischer Weise, ihre Sehfähigkeiten einzusetzen und ihr Sehvermögen optimal zu nutzen. Das Sehinteresse des Kindes bildet die Grundlage zur Ausbildung des Sehvermögens im Rahmen der physischen Möglichkeiten abhängig vom Alter, von der Sehbehinderung und dem Sehverhalten des Kindes. So wird in den Förderstunden das Sehinteresse zum Beispiel mit Licht, glänzenden Objekten, kontrastreichen Mustern und Bildern, bewegten Objekten und Spielen auf einer Lightbox gefördert.

Doch die Heilpädagogische Früherziehung hat nicht nur die Förderung des Sehvermögens an sich im Blick. Mit der Begleitung wird auch bezweckt, dass sehbehinderte oder blinde Kinder lernen, mit dem vorhandenen Sehrest oder dem fehlenden Sehvermögen möglichst selbständig ihren Alltag zu meistern. Dazu werden beispielsweise die anderen Sinne, Orientierung und Mobilität in der Wohnung und in der näheren Umgebung mitgefördert (im Quartierladen, in der Spielgruppe, etc.) und lebenspraktische Fähigkeiten kindsgerecht eingeübt (An- und Ausziehen, selbständiges Essen, Körperpflege und Hausarbeiten).

Achtzig Prozent der Wahrnehmung des Menschen erfolgt über das Auge. Daher werden die Bereiche Kommunikation, Grob- und Feinmotorik, Sozialverhalten, kognitive Entwicklung und Spielverhalten unter sehbehinderten- und blindenpädagogischen Aspekten – individuell auf das Kind angepasst – unterstützt und begleitet. Babys beispielsweise lernen zuerst über Gesichtsausdrücke und Blickkontakt zu kommunizieren. Wenn ein Kind wegen seiner Sehbehinderung das Gesicht oder den Gesichtsausdruck der Mutter oder anderer Menschen um sich herum nicht sieht, geschieht dies nicht automatisch. Der Blickkontakt fehlt, das Kind imitiert Gesichtsausdrücke nicht. Das erschwert die Kommunikation des Kindes mit seinem Umfeld. Wir zeigen der Mutter und der Familie, wie sie mit dem Kind spielen und kommunizieren können, damit das Kind dies alles lernt.

Für einen barrierefreien Lernerfolg wird jedoch nicht nur beim Kind angesetzt. Der Auftrag an Fachpersonen für Heilpädagogische Früherziehung für Kinder mit einer Sehbehinderung umfasst die Beratung von Eltern und Fachpersonen, wie Physiotherapeuten, Spielgruppen- und Krippenleiterinnen oder Kindergartenlehrpersonen. Sie werden darin unterstützt, eine Umgebung zu schaffen oder Materialien zur Verfügung zu stellen, damit das Kind spielend lernen oder Aufgaben lösen kann. Wenn ein Kind eine Figur ausschneiden soll, muss es nicht nur schneiden können, sondern auch während des Schneidens die Linie der Figur und den Schneidevorgang visuell verfolgen können. Die Gestaltung der Arbeitsvorlage mit einer dickeren Linie auf möglichst hellem Hintergrund kann so den nötigen Kontrast bilden, damit dies gelingt.

Ziel der heilpädagogischen Früherziehung für Kinder mit einer Sehbehinderung ist die grösstmögliche Partizipation im Alltag. Dazu wendet sie Low Vision Training und sehbehinderten- und blindenpädagogisches Lernen an – je früher, desto besser. Darüber hinaus wird fachkundige Unterstützung geboten im alltagstauglichen Einrichten von Spielecken und Lernumgebungen, damit das Umfeld des Kindes so gestaltet wird, dass es sich seinem Alter und den Möglichkeiten entsprechend optimal entwickeln und teilhaben kann. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass ein schwer mehrfach- und sehbehindertes Kind wahrnimmt, was in seinem nächsten Umfeld passiert und dementsprechend interagieren kann; ein blindes Kleinkind selbständig zur Mutter in die Küche geht um etwas zum Trinken zu holen und für ein normal intelligentes, sehbehindertes Kind, dass es im Kindergarten und folglich in der Regelschule vor Ort integriert wird.