Kathrin Schellenberg, Chefredakteurin tactuel

Liebe Leserin, lieber Leser

Stellen Sie sich vor, Sie tappen im Dunkeln durchs Schlafzimmer. Ihre Hand streift über ein Regal, bleibt an etwas hängen. Hart? Rund? Vielleicht ein Glas? Oder doch ein Kerzenständer? Erst als Sie das Licht anknipsen, wird klar: Es war das Ladegerät Ihres Smartphones.

Dieses kurze Gefühl der Unsicherheit – es ist Alltag für viele Menschen mit Blindheit. Und genau darum war es eine Revolution, als vor 200 Jahren eine tastbare Schrift erfunden wurde: die Brailleschrift. Anfangs belächelt und bekämpft, ist sie heute ein Symbol für Selbstständigkeit und Bildung.

In dieser Ausgabe blicken wir zurück auf die Entstehung und Bedeutung der Brailleschrift – und fragen auch, wie es weitergeht. Denn obwohl sie im öffentlichen Raum sichtbarer denn je ist, nimmt die Zahl der gedruckten Braillebücher ab. Gleichzeitig erleben wir, wie kreativ und individuell Braille heute genutzt wird.

Zum Beispiel von Peter Hänggi. Er druckt in seiner Wohnung bei Basel Brailletexte auf Hightech-Maschinen. Punkt für Punkt, Seite für Seite. Mit Geduld, Präzision – und viel Herzblut. Für ihn ist Braille nicht nur Technik. Es ist Kultur.

Oder im Schulbereich: Die digitale Bibliothek MonaLira zeigt, wie barrierefreie Literatur in den Unterricht integriert werden kann – ohne komplizierte Geräte oder bürokratische Hürden. In Genf wurde MonaLira erstmals an einer Regelschule eingeführt. Ein Modell mit Vorbildcharakter.

Punkte fühlen. Verstehen, was man nicht sieht. Und dabei neue Zugänge schaffen. Dieses Heft lädt Sie ein, die Welt der Blindenschrift mit den Sinnen – und dem Herzen – zu erkunden.

Kathrin Schellenberg, Chefredakteurin tactuel