Punkte, Muster, Moleküle – warum Braille für ihre Forschung essenziell ist
Fünf Fragen an Jacqueline Kientsch, Brailleschrift-Lernende

Von Michel Bossart, Redaktion tactuel
Die 27-jährige Jacqueline Kientsch promoviert derzeit an der Universität Zürich im Bereich Retinaforschung. Vor knapp zwei Jahren erlitt sie einen Zentralarterienverschluss in beiden Augen, gefolgt von mehreren Komplikationen. Dies hatte zur Folge, dass sich ihre Sehkraft auf Lichtwahrnehmung im rechten Auge reduzierte. Ihr sei aber immer klar gewesen, dass sie ihre Doktorarbeit trotzdem beenden möchte und habe sich Schritt für Schritt verschiedene kompensatorischen Arbeitstechniken angeeignet. Ein zentraler Bestandteil davon ist die Brailleschrift.
Frau Kientsch, was hat Sie bewogen, Brailleschrift zu lernen? 
Ich hatte zwei grosse Motivationen: Zum einen lese ich leidenschaftlich gern und wollte wieder «richtige» Bücher in die Hand nehmen können. Zum anderen ist die Brailleschrift für meinen Arbeitsalltag eine enorme Hilfe, insbesondere beim Programmieren und beim Korrekturlesen wissenschaftlicher Texte. 
Wie war Ihr erster Eindruck – leichter oder schwieriger als erwartet? 
Anfangs empfand ich es als recht herausfordernd, die feinen Punkte mit den Fingern zu ertasten und mir die Muster der Buchstaben vorzustellen. Doch mit Geduld und Übung wurde es zunehmend einfacher – und es macht grosse Freude, die eigenen Fortschritte zu beobachten. 
Wenn Sie mit den Fingern über die Brailleschrift fahren – was genau nehmen Sie wahr? 
Anfangs konzentrierte ich mich auf jeden einzelnen Punkt, um daraus mühsam den jeweiligen Buchstaben zu rekonstruieren. Mittlerweile läuft der Prozess intuitiver: Ich erkenne Muster und habe den Buchstaben vor meinem inneren Auge. 
Welche Vorteile hat Braille für Sie im Alltag – insbesondere im Vergleich zu Audiomedien? 
Gerade beim Programmieren oder Korrekturlesen ist Braille für mich unverzichtbar. Ein fehlendes Komma oder eine falsch platzierte Klammer in einem Code zu finden, ist über die Braillezeile deutlich einfacher, als sich von einer Sprachausgabe wie JAWS den Fehler vorlesen zu lassen. Auch wissenschaftliche Begriffe, etwa Namen von Molekülen oder Genen, sind oft komplex und fehleranfällig – hier hilft es enorm, die Schreibweise direkt auf der Braillezeile zu kontrollieren. 
Welchen Tipp würden Sie Menschen geben, die überlegen, Braille zu lernen? 
Ich kann ihnen wirklich empfehlen, Braille zu lernen – sei es, um wieder eigenständig Bücher zu lesen, Bahnsteigbeschriftungen zu erkennen oder sich die Arbeit in bestimmten Bereichen zu erleichtern. Mein wichtigster Tipp: Geduld mitbringen! Man lernt dabei quasi eine neue Sprache, und das braucht Zeit. Aber dranbleiben lohnt sich – denn die Welt der Punktschrift ist faszinierend und eröffnet viele neue Möglichkeiten.

