Portrait Celine van Till

Celine van Till fährt mit ihrem Rennfahrrad auf der Strasse. Sie trägt ein Schweizer-Trikot und einen Helm. Mit der linken Hand hält sie den Fahrradlenker fest; die rechte Hand erhebt sie in einem Siegesjubel.
Die sehbeeinträchtigte Spitzensportlerin Celine van Till wird bei der Para-WM 2025 in Belgien Doppelweltmeisterin – mit je einer Goldmedaille im Zeitfahren und im Strassenrennen. / Bild: SWpix.com

Von Michel Bossart, Redaktion tactuel

Celine van Till erlitt als 17-Jährige einen schweren Reitunfall. Sie musste wieder lernen, zu leben, zu gehen und die Welt mit anderen Augen zu sehen. Als paralympische Athletin, Parlamentarierin im Grossen Rat des Kantons Genf und engagierte Referentin verkörpert sie Resilienz und Lebensmut. Sie spricht mit uns über Akzeptanz, Inklusion und die Kraft, wieder aufzustehen – immer und immer wieder.

Frau van Till, wenn Sie heute an Ihren Unfall und die Jahre danach zurückdenken: Welches war der ausschlaggebende Moment, in dem Sie entschieden haben, Ihr Leben wieder aktiv in die Hand zu nehmen?
Ich habe viele schwierige Phasen durchgemacht. Sämtliche alltäglichen Dinge musste ich wieder neu erlernen. Das Schwierigste war jedoch die Depression – eine Zeit, in der ich nicht mehr leben wollte. Da musste ich eine Entscheidung treffen: Entweder ich nehme mein Leben in die Hand und führe den Kampf, den ich begonnen hatte, weiter, oder ich lasse mich gehen, und dann weiss ich nicht, wie mein Leben geendet hätte. Heute bin ich überzeugt, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.

Nach Ihrem Reitunfall haben Sie weiter Leistungssport betrieben. Was hat Sie motiviert, weiterzumachen und sich neuen Disziplinen zu widmen?
Der Spitzensport war meine Kraftquelle. Er hat mir während meiner Reha geholfen, physische Fortschritte zu machen, die messbar waren. Mir Ziele zu setzen, behinderungsbedingte Hindernisse überwinden und Lösungen zu finden, um leistungsfähig zu sein, gibt mir Kraft. Jede sportliche Herausforderung löst Glücksgefühle in mir aus, und ich inspiriere auch gerne andere.
Nach dem Unfall 2008 entdeckte ich meine Leidenschaft für den Reitsport neu und nahm an den paralympischen Spielen 2016 in Rio teil. Danach suchte ich nach neuen Abenteuern: Ich begann mit Leichtathletik und entdeckte dann den Radsport für mich. Da habe ich meine Welt gefunden: Ich gewann 2024 zwei Silbermedaillen an den paralympischen Spielen in Paris und 2025 zwei Weltmeistertitel.

Wie haben Sie gelernt, Ihre Einschränkungen zu akzeptieren?
Das war nicht einfach, und ich habe lange gebraucht. Ich habe gelernt, meinem Leben einen Sinn zu verleihen – dank einer Mission: anderen zu helfen. Über den Sport, meine politische Tätigkeit und meine Vorträge will ich zeigen, dass alles möglich ist. Wenn ich meine Werte weitergeben kann und berührende Rückmeldungen bekomme, gibt mir das die Kraft, weiterzumachen.

Genau. Sie sprechen oft von Resilienz in Ihren Vorträgen. Was bedeutet dieses Wort ganz konkret für Sie?
Resilienz bedeutet, wiederaufstehen zu können. Für mich hängt alles von der Einstellung und dem Willen ab. Nichts ist endgültig. Das Leben geht weiter, und alles ist möglich. Mit den Handlungen, die wir jeden Tag vornehmen, können wir die Zukunft ändern.

Sie leben mit einem stark eingeschränkten Sehvermögen. Welchen Einfluss hat das auf Ihren Alltag – im Sport, in der Politik und in Ihrem Privatleben?
Seit meinem Unfall habe ich die Hälfte meines Gesichtsfelds verloren. Was ich sehe, ist manchmal verschwommen, manchmal scharf, und weil ich doppelt sehe, sehe ich alles in zwei Dimensionen. Es war sehr schwierig, mich an diese neue Realität anzupassen: Ich bin gestolpert, habe mich angeschlagen und bin vom Trottoir gefallen. Mit der Zeit haben sich mein Gehör und mein Tastsinn weiterentwickelt. Das hilft mir heute, mich sowohl zu Fuss als auch auf dem Velo zu orientieren. In der Politik bin ich aufgrund dieser Erfahrung besonders an Themen im Zusammenhang mit Behinderung interessiert. Es ist wichtig, dass wir diese bei all unseren Entscheidungen einbeziehen.

Welche Rolle spielen technische Hilfsmittel oder digitale Technologien für Ihre Selbstständigkeit?
Um meine motorische Behinderung auszugleichen, brauche ich einen Computer, da ich aufgrund meiner eingeschränkten Feinmotorik nicht gut von Hand schreiben kann. In Bezug auf mein Sehvermögen passe ich meine Umgebung an: Ich setze mich beispielsweise immer links an den Tisch, damit ich die Personen rechts von mir wahrnehmen kann, da ich links nichts sehe.

Gab es Situationen, in denen Sie dachten: «Die Gesellschaft ist noch nicht bereit für Menschen mit Behinderungen»?
Ja, natürlich. Barrierefreiheit ist nach wie vor eine grosse Herausforderung in allen Bereichen: Wohnen, Schule, Gesundheitsversorgung, Ausbildung oder auch beim Sport. Es gibt Fortschritte, aber es bleibt noch viel zu tun, damit die Gesellschaft wirklich inklusiv wird.

Welche Einsichten aus dem Leistungssport übernehmen Sie heute in der Politik oder in Ihren Vorträgen?
Der Sport hat mir viel beigebracht. Er mich mental darauf vorbereitet, mit Druck umgehen zu können, Misserfolge zu bewältigen und nach Lösungen zu suchen. Im Berufsleben und in der Politik bedeutet das, für seine Ziele zu kämpfen und niemals aufzugeben.

Sie werden oft als Vorbild angesehen. Ist das eine Rolle, die Ihnen vor allem Kraft gibt – oder ist sie manchmal auch eine gewisse Last?
Manchmal schätze ich die Ruhe eines Ortes, wo mich niemand erkennt. Aber die positiven Bemerkungen berühren mich immer sehr. Ich nehme diese Rolle voll und ganz an und hoffe, dass mein Werdegang andere Menschen inspiriert und ihnen helfen kann.

Was hat Sie dazu bewogen, sich in der Politik zu engagieren?
Ich verspürte das Bedürfnis, mich für die Gemeinschaft einzusetzen – für all diejenigen, die sich in mir wiedererkennen und meine Vision der Gesellschaft teilen. Ich möchte Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen eine Stimme geben, aber auch die Praxis verschiedener Departemente in Bezug auf Themen wie Sport und Sicherheit hinterfragen.

Sie sind Grossrätin im Kanton Genf. Wie erleben Sie dort die Barrierefreiheit – machen Sie eher positive Erfahrungen oder treffen Sie auf Hindernisse?
Mein erster Tag im Parlament war von einem Sturz geprägt, den ich gerade noch vermeiden konnte! Wenn man den Saal des Grossen Rats verlässt, gibt es eine Stufe zur Rampe des Stadthauses. Sie ist nicht mit einem farbigen Streifen markiert und man hat die Stufe schnell übersehen – ob man «gesund» ist oder eine Beeinträchtigung hat. Im Gebäude, das im 16. Jahrhundert erbaut wurde, gibt es mehrere Hindernisse für Menschen im Rollstuhl, mit eingeschränkter Mobilität oder mit einer Sehbeeinträchtigung. Zu einigen Kommissionszimmern gelangt man beispielsweise nur über Stufen.

Celine van Till / Bild: Pro Infirmis

Gibt es Ihrer Meinung nach Strukturen oder Einstellungen in der Politik, die nach wie vor diskriminierend sind?
Auch wenn noch längst nicht alles perfekt ist, hat das Bewusstsein für Behinderung und Inklusion in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Die Bundesverfassung verbietet jegliche Diskriminierung aufgrund einer Behinderung und sieht Massnahmen vor, um Ungleichheiten zu beseitigen. Es gibt auch ein entsprechendes Bundesgesetz, das auf den Vorschlag des Bundesrats hin teilrevidiert werden soll. Zusätzlich werden vier begleitende Schwerpunktprogramme mit dem Fokus auf Arbeit, Dienstleistungen, Wohnen und Teilhabe erarbeitet. Die Gesetze gibt es also, der politische Wille ist auch da – jetzt müssen sie nur noch in der Praxis und im Alltag umgesetzt werden.

Das Hauptthema unserer Ausgabe lautet «Akzeptanz einer Sehbeeinträchtigung». Was bedeutet für Sie Akzeptanz im Zusammenhang mit einer Behinderung?
Behinderung ist für manche Menschen noch immer mit Stigmatisierung verbunden, und der Blick der anderen ist nicht immer leicht zu ertragen. Es kann verletzende Bemerkungen geben, die dazu führen können, dass man sich manchmal nicht traut, um Hilfe zu bitten. Für mich bedeutet Akzeptanz, genau diese Angst vor dem Urteil zu überwinden und die Stärke zu finden, sich selbst zu sein – mit all seinen Unterschieden.

Sie sind auch Botschafterin und Referentin. Wie nehmen Sie die Reaktionen Ihres Publikums wahr? Sind sie berührt, inspiriert oder manchmal auch kritisch?
Jede Person reagiert auf ihre eigene Art und Weise. Mit dem von mir gegründeten Verein Tout est possible möchte ich die Talente von Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderungen – sei es körperlicher, geistiger oder sensorischer Art – ins Rampenlicht rücken. In meinen Vorträgen versuche ich, das Publikum für die verschiedenen Formen von Behinderung zu sensibilisieren und zu zeigen, dass es möglich ist, glücklich und erfolgreich zu sein – mit oder ohne Behinderung. Die Rückmeldungen sind oft sehr positiv, und wenn sie es einmal nicht sind, versuche ich stets, etwas daraus zu lernen.

Wenn jemand gerade erfahren hat, dass er oder sie eine Sehbeeinträchtigung hat, welche Ratschläge würden Sie dieser Person geben?
Ich würde ihr empfehlen, alles auszuprobieren, dranzubleiben und zu lernen, mit der Sehbeeinträchtigung zu leben und sie vollständig ins eigene Leben zu integrieren – auch wenn das nicht einfach ist. Es ist besser, die Behinderung zu akzeptieren, da man nichts daran ändern kann.

Wie können Angehörige und Freunde helfen – ohne bevormundend zu sein?
Ich schätze es, wenn mir meine Angehörigen bei gewissen Dingen helfen, zum Beispiel indem sie mich irgendwohin fahren. Es ist manchmal angenehm, nicht nur auf den öffentlichen Verkehr angewiesen zu sein. Ich bin jedoch gerne selbständig und bitte nur dann um Hilfe, wenn ich sie wirklich brauche.

Wenn Sie einen Wunsch an die Gesellschaft äussern könnten in Bezug auf Behinderung und Diversität, welcher wäre das?
Mein Traum wäre eine Gesellschaft, die vollkommen barrierefrei ist. Ganz konkret hoffe ich jedoch vor allem, dass sich die Dinge weiterhin in die richtige Richtung entwickeln – in allen Lebensbereichen – damit jede und jeder voll und ganz am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann.