Zwei kleine Hände bedienen eine Braillezeile vor einer Computertastatur. Die linke Hand liegt auf der Tastatur, die rechte ertastet die Braillepunkte.
Die Braillezeile überträgt den Text auf dem Computerdisplay in Brailleschrift. / Bild: Daniel Winkler

Die fortschreitende Digitalisierung hat die schriftsprachliche Kommunikation in den letzten Jahrzehnten verändert. Für Menschen mit Sehbeeinträchtigung ermöglichen Technologien einen zunehmend barrierefreien Zugang zu Informationen und fördern Selbstständigkeit. Vor diesem Hintergrund untersuchte die Studie «Zukunft der Brailleschrift» (ZuBra) die Nutzung und Relevanz der Brailleschrift sowie Access Technologien. Durchgeführt wurde sie zwischen 2015 und 2018 von der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse zusammengefasst.

Von Fabian Winter und Ursula Hofer, HfH, und Markus Lang, PH Heidelberg

Im Rahmen der Studie «Zukunft der Brailleschrift» (ZuBra) wurden das Nutzungsverhalten, die Einflussfaktoren sowie die Lese-, Schreib- und Hörkompetenzen von Braille-Nutzenden durch eine mehrstufigen Erhebung analysiert. Zunächst erfolgte 2015 eine quantitative Online- und Offlinebefragung von 819 Braille-Nutzenden aller Altersstufen. Zwischen 2016 und 2017 wurden schriftsprachliche Kompetenzen von 190 BrailleNutzenden im Alter von 11 bis 22 Jahren erhoben. Abschliessend wurden 2018 mehrere Fokusgruppen-Interviews mit Expertinnen und Experten zum Thema Brailleschrift in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgeführt.
Aus der Studie gingen mehr als 20 wissenschaftliche Veröffentlichungen hervor. Interessierte finden weiterführende Informationen auf der Projektwebsite der HfH (www.hfh.ch/projekt/zukunft-der-brailleschrift-zubra).

Die Brailleschrift: lebendig und zukunftsfähig
Die Ergebnisse der ersten ZuBra-Erhebung bestätigen den hohen Stellenwert der Brailleschrift bei blinden und hochgradig sehbehinderten Menschen aller Altersgruppen. Obwohl auditive Technologien in allen Altersgruppen eine wichtige Rolle beim Zugang zu sowie bei der Produktion von schriftlicher Kommunikation spielen, zeigen die Daten keine Verdrängung der Brailleschrift. Vielmehr wird sie überwiegend in Kombination mit Computertechnologien, einschliesslich Sprachausgabe, genutzt (Hofer et al., 2016, 2021; siehe Literaturangaben auf www.tactuel.ch).

Start und Dauer der Braille-Förderung
Die zweite ZuBra-Erhebung belegt einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Braille-Leseflüssigkeit und der Dauer der Braille-Nutzung: Je länger Braille genutzt wird, desto flüssiger lesen die Nutzenden. Besonders ausgeprägt ist dieser Effekt bei dual Schriftnutzenden, die sowohl Braille- als auch Schwarzschrift verwenden. Dies unterstreicht die Bedeutung eines möglichst frühzeitigen Erwerbs der Brailleschrift. Gleichzeitig soll der Erwerb der Brailleschrift in allen Lebensphasen ermöglicht werden (Winter et al., 2019).

Lesen oder Hören? Beides!
Aus der zweiten Projektphase geht hervor, dass das Hören eine deutlich schnellere Informationsaufnahme ermöglicht als das haptische Lesen. Die durchschnittliche Hörgeschwindigkeit mit Sprachausgabe lag deutlich über der durchschnittlichen Braille-Lesegeschwindigkeit, wobei sich allerdings eine breite Streuung abzeichnete. Beim Textverständnis schnitten die Teilnehmenden im Durchschnitt lesend jedoch besser ab als hörend (Hofer et al., 2019). Daraus folgt: Haptisches Lesen bleibt essenziell für die schriftsprachliche Teilhabe, weil damit das Verstehen und Behalten von Inhalten unterstützt wird. Gleichzeitig bietet die Sprachausgabe einen erheblichen Geschwindigkeitsvorteil bei nur geringen Verstehenseinbussen, sodass ihr gezielter, ergänzender Einsatz – abhängig von Aufgabenstellung und Fachbereich – eine sinnvolle Unterstützung ist.

Braillekurzschrift im Wandel der Generationen
Die Daten der ersten und zweiten Erhebung zeigen Generationenunterschiede in der Braille-Nutzung. Besonders deutlich ist dies bei der Kurzschrift. Während die Kurzschrift die Lesegeschwindigkeit nachweislich steigern kann, wird sie von der jüngeren Generation der unter 23-Jährigen deutlich seltener genutzt als von oberen Altersklassen. Dies, obwohl Angebote zum Erlernen der Kurzschrift zur Verfügung standen. Mögliche Gründe für diese generationenspezifischen Unterschiede könnten in folgenden Aspekten liegen: in der verstärkten Nutzung digitaler Angebote und Technologien bei den Jüngeren, einer unzureichenden Dauer der Kurzschrift-Förderung oder in mangelnden zeitlichen Ressourcen der Lehrpersonen und in der Vielfalt an curricular vorgegebenen Lernzielen. Es kann unumgänglich sein, Entscheide zu treffen und Prioritäten zu setzen, was zu einem Verzicht auf den Kurzschriftunterricht führen könnte.

Brailleschrift in integrativen und separativen Bildungskontexten
In der zweiten Projektphase wurden die Teilnehmenden zu Qualität und Umfang von Braille- und Technologieunterricht befragt. Schulformübergreifend war die Zufriedenheit mit den Bildungsangeboten hoch. Allerdings war die Zufriedenheit bezüglich des Umfangs an Sonder- und Förderschulen höher. Dies deutet auf einen höheren Bedarf an personellen und zeitlichen Ressourcen in integrativen Kontexten hin. Trotz dieser divergierenden Einschätzungen ergaben sich in den Leistungstestungen im Lesen, Schreiben und im Hörverstehen keine relevanten Unterschiede zwischen den Schulformen (Lang et al., 2020). Entscheidend bei der Förderung schriftsprachlicher Kompetenzen ist daher nicht die Schulform, sondern die Verfügbarkeit ausreichender zeitlicher und personeller Ressourcen. Um hochwertige und angemessen individualisierende Bildungangebote zu gewährleisten, sind die fachlichen Kooperationen zwischen Lehr- und Beratungspersonen ebenso bedeutsam wie deren didaktisches Know-How in der Vermittlung schriftsprachlicher Kompetenzen in verschiedenen Brailleschriftsystemen (Hofer et al., 2021b, 2021a).

Fazit: Die Zukunft der Brailleschrift
Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse, dass die Brailleschrift auch in Zeiten zunehmender Digitalisierung nicht an Bedeutung verliert, sich ihre Nutzung aber verändert. Sie bleibt ein unverzichtbarer Bestandteil schulischer, beruflicher und alltäglicher Teilhabe. Entscheidend für ihren Erhalt und ihre Weiterentwicklung sind gezielte Bildungsangebote, gut ausgebildete Punktschriftlehrpersonen sowie eine kompetenzorientierte Verbindung von Brailleunterricht mit Technologien.


Literatur:

Hofer, U., Lang, M., & Schweizer, M. (2016). Lesen und Schreiben mit Brailleschrift und assistiven Technologien: Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „ZuBra—Zukunft der Brailleschrift“. blind-sehbehindert, 136(2), 100–115.

Hofer, U., Lang, M., & Winter, F. (2021a). Zukunft der Brailleschrift: Grundlegene Erkenntnisse und notwendige Schlussfolgerungen für die Praxis. Didaktische Fördervorschläge und Erläuterungen. blind-sehbehindert, 141(4), 338–352.

Hofer, U., Lang, M., & Winter, F. (2021b). Zukunft der Brailleschrift: Grundlegende Erkenntnisse und notwendige Schlussfolgerungen für die Praxis. ZuBra-Erkenntnisse in 12 praxisnahe Thesen. blind-sehbehindert, 141(3), 265–275.

Hofer, U., Lang, M., Winter, F., Schweizer, M., Hallenberger, A., & Laemers, F. (2019). Lese- und Schreibkompetenzen von Braille Lesenden: Forschungsergebnisse aus dem Projekt Zukunft der Brailleschrift. blind-sehbehindert, 139(1), 7–26.

Lang, M., Hofer, U., & Winter, F. (2020). Lese- und Schreibkompetenzen von Braillenutzerinnen und -nutzern in Allgemeinen Schulen und Schulen mit Förderschwerpunkt Sehen: Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt „ZuBra“ (Zukunft der Brailleschrift). Zeitschrift für Heilpädagogik, 71(6), 280–292.

Winter, F., Hofer, U., & Lang, M. (2019). Lese- und Schreibkompetenzen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit dualer Schriftnutzung: Forschungsergebnisse aus dem Projekt Zukunft der Brailleschrift. blind-sehbehindert, 139(2), 92–108.