Ist die Brailleschrift tot, oder steht ihr eine neue Lebensphase bevor?

Könnte sie reden, würde sich die Brailleschrift das Zitat von Mark Twain zu Eigen machen. Mit jeder technischen Neuerung wird ihr das Ende vorausgesagt. Dagegen wird E-Book und Co. für Sehende als Drohung für das Buch gehandelt, nicht aber für Schrift überhaupt! Ist es dann für die Brailleschrift anders?

von Petra Aldridge, Sprecherin der AG Braille im Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V.

Braillekunst in Wellingon, Neuseeland

Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Liebesbrief? Mit Herzklopfen erhalten? Ich ja! Raschelnd auf Papier und in Brailleschrift – von einem sehenden Jungen. Er 14, ich 11. Ich weiss nicht mehr, was mich damals mehr in Erstaunen versetzt hat: der Brief an sich oder die Abfassung in Brailleschrift. Und das von Hand auf einer Schreibtafel mit Griffel – Punkt für Punkt – gestichelt! «HDGDLUSNM 4e. IKD!»

SMS-Profi s haben sofort erkannt, dass auch dies ein Liebesbekenntnis ist. Da seufze ich nur nochmelancholisch: GN8, ILUVEMIDI*, Liebesbrief! Aber der steigende Seltenheitswert des Liebesbriefs auf Papier läutet nicht das aussterben der Schrift an sich ein. Das Medium und die Sprache ändern sich – und die Schrift auch. Doch beim SMS erfüllt sie ihren Zweck als Kommunikationsmittel immer noch. Es sind nun zwar andere Herzen – aber dasselbe Pochen. Was und wie man liest und schreibt ist dem Wandel der Zeit unterzogen. Weniger Papier, mehr Elektronik.

Rückgang bei den Bibliotheken

Seit Jahren konstatieren Braillebibliotheken und -verlage einen Rückgang der Nutzerzahlen. Naht das viel beschworene Ende der Brailleschrift? Für die effektive Abnahme der aktiven Brailleleser im deutschsprachigen Raum sind mir keine verlässlichen Zahlen bekannt. Der Rückgang der Leser bei Braillebibliotheken reicht als Beweis bei weitem nicht aus. Werfen wir einen Blick nach Frankreich, dem Geburtsland der Brailleschrift. Die Abonnentenzahl der Braillezeitschrift «Le Louis Braille» sank von einst 3000 in den siebziger auf 2000 in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. 2012 waren es «nur» noch 900. Die sehr eindrückliche Statistik versprüht Untergangsstimmung.

Der Abonnentenrückgang der letzten Jahre muss aber nicht heissen, dass sich immer weniger aktiv informieren. Vielleicht sind es nur andere Quellen und es wird viel mehr am PC gelesen. Mit der Sprachausgabe – aber auch mit der Braillezeile, dem Bildschirm der Blinden.

Auch das Braille steht nicht still

Die Zeit der grossen Aufl agen ist vorbei. Gleichzeitig steht Braille in noch nie gesehener Menge und Vielfalt zur Verfügung. Dank elektronischen Daten und der Computerverarbeitung kann druckreife Brailleschrift topaktuell produziert werden. Über die Braillezeile kommen die Finger in den Genuss vom Inhalt von Computer- und iPhone-Displays – und das in Echtzeit. Den Schwanengesang des Braillebuches hören wir nicht. Höchstens der schön gebundenen aber überdimensionierten Einbandstapel. Dennoch liegt viel Potenzial im elektronischen oder nach Bedarf ausgedruckten Buch – für die Finger genauso wie für die Augen. Ziel muss es sein, Brailleschrift sinnvoll mit den modernen medialen Ausgabeformen zu verknüpfen und somit den individuellen Nutzerbedürfnissen zu entsprechen. Die Kulturtechnik Brailleschrift ist nicht überholt oder veraltet. Bei ihrer medialen Präsentation muss jedoch innovatives Handeln ansetzen. Und warum soll es nicht gelingen, die früher ungeahnten Informationsfl üsse von heute mit der dem Fingerlesen ideal angepassten Präsentationsform mit Punkten zusammenzubringen? Kaum war die Brailleschrift um 1825 erfunden, wurde sie für Musiknoten erweitert. Fünfzig Jahre später hatte sie die Grenzen des französischen Sprachraums gesprengt und fand offi ziell internationale Anerkennung. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sah die internationale Erschliessung von Mathematik, Chemie, die Lautschrift, Altgriechisch und Althebräisch mittels der Brailleschrift. Schon in den 1970er Jahren wagte sie den Schritt weg vom Papier: Die ersten Braillezeilen – Displays aus einzeln mit Elektronik gesteuerten Punkten – erlaubte die sofortige Anzeige digitaler Informationen. Da die Bedingungen an den Braillezeilen anders waren – und sind – als auf Papier, wurde im Jahrzehnt danach schon eine spezielle 8-Punkte-Brailleschrift entwickelt.

Die Ablösung des Briefverkehrs durch E-Mail und SMS ist nicht nur ein Phänomen der sehenden Bevölkerung. Dank den elektronischen Kommunikationsmitteln können blinde Personen zum ersten Mal schriftliche Mitteilungen lesen, die nicht extra für sie aufbereitet wurden. Ein SMS kann man sich per Sprachausgabe vorlesen lassen. Aber zunehmend – so zum Beispiel beim iPhone – kann eine angeschlossene Braillezeile das sofortige Lesen mit den Fingern ermöglichen. Da freuen sich nicht nur gehörlose blinde Personen. Mit der Braillezeile lassen sich Telefonnummern leichter nachlesen und fremde Namen besser verstehen; und beim Lesen einer Tabelle – und SMS-Abkürzungen – möchte ich die Braillezeile erst recht nicht missen. Und für die Übersicht lasse ich es mir ausdrucken. Die Brailleschrift ist nicht tot. Sie bereitet sich auf ihre nächste Lebensphase vor.

 

SMS-Abkürzungen

HDGDLUSNM = Hab dich ganz doll lieb und sogar noch mehr
4e = forever
IKD = Ich küsse dich
GN8 = Gute Nacht
ILUVEMIDI = Ich liebe und vermisse dich