Ein Prozess in fünf Phasen

Menschen, die erblinden oder sehbehindert werden, bekommen oft genug zu hören, sie sollen dem Verlust des Augenlichts nicht nachtrauern und sie müssten sich ihrer Sehbehinderung bewusst werden und sie akzeptieren. Doch jeder Mensch findet einen anderen Weg, die neue Behinderung in sein Leben zu integrieren. Der dahinterliegende Prozess lässt sich aber in klare Phasen definieren.

von Denise Cugini

Plötzlich wird es dunkel und auf der anderen Seite bleibt es auch so.Mit 23 bekam N. die Diagnose Retinitis pigmentosa. Über einen mehr oder weniger langen Zeitraum lässt die Sehkraft allmählich nach und schliesslich kommt es zur totalen Erblindung. Viele der ersten Jahre lebte dieser junge Mann sein Leben ganz normal weiter. Doch je stärker seine Sehkraft nachliess, umso mehr ermüdete ihn der Versuch, sich und seinem gesamten Umfeld etwas vorzumachen. Ein Gefühl der Ungerechtigkeit, Frustration, Wut und lebensüberdruss überkamen ihn. «Ich war überzeugt, dass mein Leben nicht mehr lebenswert war», sagt der heute sehr aktive Vierzigjährige. Nach einer beruflichen Umschulung arbeitet N. heute 80 %, engagiert sich politisch und nimmt am Vereinsleben teil. Mit Hilfe seines Blindenhundes führt er ein eigenständiges und dynamisches Leben. Doch vor der heutigen Ausgeglichenheit stand ein langer und anstrengender Weg.

Nötige Phasen zur Integration der Behinderung

Die Integration der Behinderung in den eigenen Alltag beginnt mit dem Bewusstwerden und erfolgt nach einer mehr oder weniger langen Phase durch Höhen und Tiefen. Insgesamt ist der Prozess auch von den individuellen Ausprägungen der Betroffenen abhängig und charakterlich geprägt. Ins Gewicht fallen dabei die vorhandenen Ressourcen, der Erfahrungsschatz und die persönliche Gewohnheit mit Emotionen umzugehen. Lässt man seinen Gefühlen freien lauf, oder verschliesst man sich ihnen? Oder waren in der Familie Tränen zugelassen, aber Ängste oder Wutausbrüche tabuisiert? Solche Aspekte beeinflussen die Betroffenen mit der neuen Situation klarzukommen. Der Prozess ist dann abgeschlossen, wenn die Person sich in die ihr umgebenden neuen Strukturen integriert hat.

Die nachfolgend beschriebenen fünf Phasen wurden Artikeln entnommen, die Vincent Ducommun, klinischer Fachpsychologe für Psychotherapie FSP in Lausanne, publizierte. Sie ermöglichen ein besseres Verständnis für die Stimmungsschwankungen, welche ein Mensch beim Verlust der Sehkraft durchleben kann. Phasen der Trauer bei der Integration der eigenen Behinderung sind nicht pathologisch. Dauern solche Phasen aber länger an, sollte man externe Hilfe beanspruchen. Entsprechende Beratungsstellen können während dieses Integrationsprozesses der Behinderung helfen. Um neue Hoffnung zu schöpfen, reicht manchmal schon, die neue Situation zu begreifen oder über die damit verbundenen Gefühle zu sprechen.

Die Phase der Krise

Nachdem die Person von ihrer Behinderung erfährt, folgt ein von den starken Gefühlen ausgelöster Zustand der Verwirrung. Gedanken an die Zukunft werden unmöglich, das Leben wird grundsätzlich in Frage gestellt. Es kann eine Phase folgen, in der die Lebenslage verleugnet wird, oder keine Zukunftsperspektive denkbar ist. Oft kann sich die Notlage auch durch Aggressionen ausdrücken.

Die Phase des Widerstands und der Ablehnung

In dieser Phase fühlt sich die betroffene Person von ihrem Umfeld unverstanden. Im Dialog können sich betroffene Menschen schwierig, aggressiv und rau anhören und die zwischenmenschliche Verständigung stark beeinträchtigen. Auch wenn man mit Ärger und Wut schlecht beraten ist, sollen auch diese Gefühle durchlebt werden. Die Wut nimmt tendenziell zu, je mehr Verluste die betroffene Person in ihrem Leben erlitten hat.

Die Phase des Rückzugs

Die Person traut sich nicht mehr eigenständig zu handeln, leidet unter Anfl ügen von Traurigkeit oder Machtlosigkeit. Die Behinderung rückt in den Mittelpunkt und löst Ängste aus. In der Rückzugsphase wird sich die Person bewusst, dass sie aufgrund ihrer Behinderung vorsichtig sein muss und stark von anderen abhängig werden könnte. Man soll ihr in dieser Phase helfen, gegen die Isolation anzukämpfen und Wege zu fi nden, durch die sie eine möglichst grosse Unabhängigkeit bewahren kann. Es ist wichtig Vertrauen zu gewinnen und sich mit den für sehbehinderte Menschen verfügbaren Hilfsmitteln vertraut zu machen.

Die Phase der Integration

In der vierten Phase erfolgt die Integration der Behinderung in den Alltag. Die betroffene Person kehrt zur Normalität zurück. Eine Zukunftsperspektive, der Austausch mit anderen Menschen und das Interesse an jeglicher sich bietender Hilfe werden wieder möglich. Dennoch sollte man sich in dieser Phase nicht zuviel Neues zumuten und sich nicht zu sehr unter Druck setzen. Auch müssen die fi nanziellen Investitionen für notwendige Hilfsmittel gut geplant werden.

Die Phase der Resilienz oder Widerstandsfähigkeit

In diesem Stadium ist die Integration der Behinderung abgeschlossen. Vom französischen Psychi ater, Boris Cyrulnik, stammt das Resilienz-Konzept, das sich in etwa wie folgt zusammenfassen lässt: «Das Erlernen neuer Fähigkeiten ermöglicht einer Person, eine schwierige Lebenslage zu meistern und ausserdem für sich selber und das Umfeld daraus einen Nutzen zu ziehen.» In dieser Phase werden die Selbsthilfe und die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben wichtig. All dies verlangt aber oft auch viel Energie und es ist wichtig, seine eigenen Grenzen richtig einzuschätzen. Das Erlernen neuer Fähigkeiten kann neuen Lebensmut erwecken.