Eine herkömmliche analoge Lupe, ein kleines Bildschirmlesegerät und eine in Low Vision spezialisierte Augenoptikerin sitzen am runden Tisch. Sie wollen herausfinden, ob herkömmliche Lupen mit optischen Linsen überholt sind und keine Daseinsberechtigung mehr haben. Es geht hoch zu und her. Aber lesen sie selbst.

von Susanne Trefzer

Elektronische Sehhilfe (ES): Ich bin neu hier und absolut in. Wer etwas auf sich hält, benutzt elektronische Gadgets wie mich. Ich bin eine Weltneuheit, habe ergonomische Gehäuse und schwenkbare sowie hochaufl ösende Kameras. Ich biete hohe Vergrösserungen an, stelle in allen möglichen Kontrasten dar und auch in Falschund Echtfarben. Keine herkömmliche Lupe kann mir das Wasser reichen!

Analoge Lupe (AL): Na, na, kann ich auch mal etwas sagen? Auch ich habe meine Vorzüge. Ich bin nur etwa halb so schwer wie die meisten deiner Art. Bei richtiger Bedienung erlaube ich ein weitaus grösseres Sehfeld als du. Bei mir hört es zwar bei der 12-fachen Vergrösserung auf, man kann dann aber noch circa sieben Buchstaben lesen. Du schaffst das nie! Und wie lange halten denn deine Akkus so im Durchschnitt? 

ES: Das ist doch egal! Die meisten von uns schaffen dafür locker eine 15- bis 20-fache Vergrösserung. Zwar sind dann nur noch etwa drei Buchstaben sichtbar, aber der Text lässt sich ja weiter schieben. Für ungeübte Benutzer vielleicht etwas unübersichtlich, besonders wenn die Buchstaben verwischen. Ehm, meine Akkus, also im Dauerbetrieb um die drei Stunden. Dann muss ich für drei Stunden am Netz laden. Aber ohne Batterien geht bei dir auch nichts.

AL: Stimmt, viele von uns sind mit hellen LEDLämpchen ausgestattet, die das Lesegut gut beleuchten. Bei mir reicht eine Batterieladung aber locker zehnmal so lange. Und wenn die Energie raus ist, funktioniere ich auch ohne Lämpchen. Zwar beleuchte ich dann nicht mehr, bleibe aber auch nicht ganz schwarz wie du! 

ES: Dafür sind bei dir nicht mehrere Vergrösserungen integriert. Bei einigen von uns lässt sich die gewünschte Vergrösserung stufenlos einstellen. Andere haben klar definierte Stufen. Wenn du nicht mehr ausreichend vergrösserst, wirst du entsorgt und ersetzt. 

AL: Ja, ja, ich kann nur eine Vergrösserung, dafür bin ich unschlagbar günstig. Du kostest zehnmal mehr, und wenn du tot bist, wirst du zum Elektroschrott, und müsstest aufwändig rezykliert werden. Schwächere Lupen werden kaum weggeworfen, weil man uns etwa zum Schreiben einsetzen kann. Aber du kannst ja gar nicht schreiben, auch wenn die Werbung da manchmal schummelt. Diese unmöglichen zusätzlichen Halterungen, die es ermöglichen sollten, den Stift an der richtigen Stelle anzusetzen – das schafft ja nicht einmal eine gut sehende Person!

Spezialisierte Augenoptikerin (AO): So fertig jetzt! Ich liefere jetzt ein paar Fakten quasi aus einer höheren Warte. Vieles spricht für euch, vieles auch gegen euch. Das perfekte Hilfsmittel für alle Lebenslagen seid ihr beide nicht! Zuerst zu dir, optische Lupe. Auf den ersten Blick erscheinst du einfach und bescheiden. Beim Grossverteiler bist du zwischen den Papeterieartikeln zu finden, jeder kennt dich, viele haben dich. Wie man dich richtig bedient, wissen aber die wenigsten. Das beginnt schon mit der Angabe der Vergrösserung. Die lässt sich nämlich einfach berechnen, wenn man weiss, wie viele Dioptrien deine Linse hat. Man dividiert die Dioptrien durch vier, das esultat entspricht der Vergrösserung. Diese stimmt aber nur, wenn man dich auch richtig benutzt, das heisst deine Linse ganz nah ans Auge nimmt. So hat man die beste Vergrösserung, die beste Abbildung und den grössten Überblick. Und nun zu dir, elektronische Sehhilfe! Die Werbung verspricht viel und ja, du bist im Trend.

Sehbehinderte Personen wollen nicht auffallen, daher besticht dein Design. Viele von dir sehen aus wie Smartphones oder kleine Tablets. Aber deine Bildschirme sind eher zu klein um Schriften zu vergrössern. Viele Modelle messen 4.3 Zoll, also diagonal 11 Zentimeter. Die nutzbare Breite des Bildschirms liegt bei knapp 9 Zentimetern. Wird eine normale Schrift von etwa 12 Punkt um das 10-fache vergrössert, sind nur noch circa vier Buchstaben sichtbar. Flüssiges Lesen ist da schwierig. Und deine Vergrösserung… Eigentlich ist bei dir der Abbildungsmassstab angegeben, also wie viel grösser die Buchstaben auf dem Bildschirm sind, gegenüber dem Papier. Das entspricht nicht der effektiven Vergrösserung, welche der Betrachter letztlich erreicht. Wenn die Person 25 Zentimeter vom Bildschirm entfernt lesen würde, wäre der Abbildungsmassstab exakt so gross, wie die Vergrösserung. Wenn aber eine ältere Person zum Lesen mit dir ihre alte Lesebrille in der gewohnten Lesedistanz von um die 35 Zentimeter, beträgt die Vergrösserung nur noch 70 Prozent des Abbildungsmassstabs.

ES: Das ist doch egal, dann stellt man halt einfach eine etwas höhere Vergrösserung ein, das kann man bei mir ja! 

AO: So einfach ist das eben nicht, denn dann hat man noch weniger Buchstaben auf dem Bildschirm. Wenn einer deiner Benutzer noch nicht so viel Vergrösserung braucht, geht das vielleicht, nicht aber für Personen, die eine hohe Vergrösserung brauchen! Es gibt aber auch Positives über dich zu sagen. Mit vielen von dir kann man ein Standbild aufnehmen, bei einigen lässt es sich sogar speichern. Der Konstrast ist individuell einstellbar, was vor allem für Personen gut ist, die am besten im Negativkontrast lesen. Deine Akkus reichen in der Regel nur drei Stunden, das ist mager. Dann muss man dich nochmals solange aufladen. Ihr wiegt meist über 200 Gramm, das ist viel, auch wenn ihr in Prospekten als Leichtgewicht angepriesen werdet. Für die Hosentasche seid ihr zu gross. Mein Smartphone wiegt die Hälfte, ebenso eine optische Lupe mit Lämpchen.

Wer gewinnt also diesen Wettstreit?

Ich möchte von einem Unentschieden sprechen. Betroffenen Personen rate ich, sich vor dem Kauf einer elektronischen Lupe, die zwischen 500 bis über 1000 Franken kostet, gut beraten zu lassen. Vielleicht gibt es einfachere und günstigere Lösungen, die leichter transportierbar sind und nicht von einer Akkulaufzeit abhängen. Die Lupenbrille wurde in diesem Gespräch nicht berücksichtigt. Für viele Betroffene ist sie auch heute noch eine treue Begleiterin und das in allen möglichen Vergrösserungen. Und auch die optische Lupe hat für gewisse Aufgaben nach wie vor ihre Berechtigung.