Die Revolution der Punkte
200 Jahre Brailleschrift
Erfunden wurde die Brailleschrift vor 200 Jahren in Paris, stiess aber erst auf Skepsis, dann auf unzählige Gegenvorschläge, bis sie sich schliesslich 1932 auch in den USA als Standardschrift für blinde Menschen durchsetzen konnte. Petra und Vivian Aldridge unterrichten an der SIBU Brailleschrift und kompensatorische Arbeitstechniken. Die beiden Braille-Experten beleuchten die Geschichte der Brailleschrift, ihre Bedeutung in einer zunehmend digitalen Welt und die Herausforderungen beim Erlernen.

Von Michel Bossart, Redaktion tactuel
Louis Braille verlor in früher Kindheit durch einen Unfall sein Augenlicht. Er erkannte rasch das Potenzial einer auf Punkte basierenden haptischen Schrift und und entwickelte in seinen Jugendjahren ein Schriftsystem für Blinde. Sein System beruhte auf nur sechs Punkten – angeordnet wie die Augen eines Spielwürfels. Daraus lassen sich 63 Zeichen ableiten, genug für Buchstaben, Zahlen und sogar Musiknoten. Im Gegensatz zu den bis dahin üblichen geprägten Druckbuchstaben liess sich Brailles Schrift mit den Fingern schnell und flüssig lesen.

Bestechend einfach
Petra Aldridge betont: «Nicht nur lesen war nun für sehbeeinträchtigte Menschen möglich, sondern auch schreiben!» Bis zu diesem Zeitpunkt waren Blinde für die schriftliche Kommunikation nämlich immer auf die Hilfe von sehenden Personen angewiesen. Petra Aldridge, selbst sehbeeinträchtigt, bringt an der Schweizerischen Fachstelle für Sehbehinderte im Beruflichen Umfeld (SIBU) anderen sehbeeinträchtigten Menschen den Umgang mit der Brailleschrift bei. Sie leitete über fast 20 Jahre den Bereich Blindenschrift der Schweizerischen Bibliothek für Blinde- Seh- und Lesebehinderte und die AG Brailleschrift beim Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik.
Doch trotz der Logik und Einfachheit stiess die Brailleschrift zunächst auf Widerstand. Sehende Lehrkräfte waren überzeugt, dass blinde Menschen die gleiche Schrift nutzen sollten wie Sehende. Doch alle Versuche in diese Richtung scheiterten. William Moon zum Beispiel entwickelte das sogenannte Moonalphabet: Eine Reliefschrift, bei der sich die vereinfachten Buchstabenkonturen stark an die lateinischen Buchstaben in Schwarzschrift anlehnten. Die Schrift war zwar für spät Erblindete tatsächlich einfacher und rascher lesbar, doch erstens war der Druck sehr aufwendig und zweitens war sie – im Gegensatz zur Brailleschrift – zum selber Schreiben gänzlich ungeeignet.
Auch im deutschsprachigen Raum war man mit dem Punktesystem aus Frankreich nicht einfach einverstanden. Vielmehr gab es Versuche, die Brailleschrift der deutschen Sprache anzupassen, indem beispielsweise oft gebrauchte Buchstaben mit weniger Punkten geschrieben wurden.
«Ab den 1920er Jahren begann dann die Internationalisierung der Spezialschriften, zum Beispiel für Mathematik, Altgriechisch oder die Phonetik», sagt Vivian Aldridge, «ab 1932 waren auch die USA mit im Boot und die Brailleschrift wurde zur Standardschrift erklärt». Er ist Mitglied im Brailleschriftkomitee der deutschsprachigen Länder (BSKDL) und arbeitet seit mehreren Jahren in unterschiedlichen Funktionen bei der SIBU. Er erläutert: «Mitte des 20. Jahrhunderts wurden abweichende Alphabete von hunderten Sprachen – vor allem in Afrika und Indien – weitestgehend einer Art internationalen Standard angepasst.» Vivian Aldridge erklärt: «Zum Beispiel sind die Buchstaben für die Laute b, d, p und m mehr oder weniger universell gleich. Blinde Personen, die Russisch, Griechisch, Arabisch oder Hebräisch lernen, können die riesigen Unterschiede in den Schwarzschriftalphabeten meistens nicht nachvollziehen. So wird «Putin» kyrillisch «Путин» geschrieben, aber in Braille sehen das Deutsche und das Russische identisch aus.»
Totgesagte leben länger
Seit ihrem weltweiten Siegeszug wurde der Brailleschrift immer mal wieder ihr Ende verkündet. «Fast jede technische Erneuerung – sei es das Tonband, die Kassette oder DAISY, VoiceOver und wie die Assistenzsysteme alle heissen – führte dazu, dass man meinte, die Brailleschrift sei nun überflüssig geworden, da fortan alles über den Hörsinn gemacht werden könne», schmunzelt Petra Aldridge. «Das Gegenteil ist der Fall: Noch nie war die Brailleschrift im öffentlichen Raum so präsent wie heute!» Stimmt: Kaum ein Fahrstuhl, bei dem die Etagentasten nicht auch in der Punktschrift angeschrieben sind. «Auch viele Verpackungen, zum Beispiel für Medikamente, oder Werbeträger werden heute fast selbstverständlich in Braille angeschrieben», fügt sie an.
Und doch: Gerade Bücher werden immer weniger in Braille nachgefragt. Das liege an der leichten Zugänglichkeit von Hörbüchern und E-Books, meinen Petra und Vivian Aldridge. Ein Hör- oder E-Book ist rasch gekauft, auf ein Endgerät geladen und schon kann es gelesen beziehungsweise gehört werden. Aber – und Petra Aldridge schmunzelt wieder: «Viele Leser und Leserinnen koppeln dann häufig trotzdem noch eine mobile Braillezeile ans Gerät an und lesen das E-Buch taktil.» Taubblinde Personen hingegen haben diese Wahlmöglichkeit nicht: Für sie ist die Brailleschrift essenziell, um mit der Umwelt kommunizieren zu können.
Psychologischer Kraftakt
Für sehbeeinträchtigte Menschen besteht oft eine hohe Hürde, die Brailleschrift überhaupt zu lernen. «Es fühlt sich wie eine Art Eingeständnis an, dass man blind ist, obwohl man noch ein wenig sieht. Gerade für Jugendliche und Menschen, die erst im Laufe ihres Lebens von einer Sehbeeinträchtigung betroffen sind, ist der Schritt zur Brailleschrift besonders schwer, ein psychologischer Brocken», sagt Vivian Aldridge. «Dabei ist es kein Entweder-oder, Brailleschrift oder Schwarzschrift», fährt Petra Aldridge fort. «Wichtig ist, anzufangen, die Brailleschrift niederschwellig einzusetzen.» Sie unterrichte einige Personen, die derzeit noch nicht auf die Brailleschrift angewiesen seien. Sie beginne damit, Lift knöpfe zu ertasten, Verpackungen zu erlesen. «Ganz ohne Druck, doch das motiviert sie, weitere Tasterfahrungen zu sammeln wie zum Beispiel die Gleisbeschriftung an den Bahnhöfen», meint Petra Aldridge. «Die Lektionen sind zwar hin und wieder Schwerstarbeit für die Finger und die Psyche – doch in diesen Stunden schätzen die Lernenden sogar häufig das Erkunden ohne die sonst doch überwiegenden auditiven und visuellen Wahrnehmungsanforderungen.»
Wie intensiv eine sehbeeinträchtigte Person mit der Brailleschrift in Kontakt kommt, hängt stark vom Engagement des sehenden Umfelds und dessen Motivationsfähigkeit und Kreativität, die Brailleschrift zu vermitteln, ab. Zur Förderung der fachlichen Kompetenzen bei der Vermittlung der Brailleschrift leistet die HfH in Zürich einen wichtigen Beitrag: Ein CAS-Lehrgang beginnt diesen August. Die Ausbildung richtet sich an schulische Heilpädagoginnen und Früherzieher, an Punktschriftlehrkräfte und an Menschen, die selbst die Brailleschrift nutzen und sich für eine didaktische Qualifikation interessieren. An 15 Präsenztagen lernen die Teilnehmenden die unterschiedlichen Brailleschriftsysteme kennen, können Fördereinheiten zur Brailleschrift systematisch planen und durchführen, lernen zielgruppenspezifische Förderprogramme und Methoden kennen und eignen sich den Umgang mit Access-Technologien an. Petra und Vivian Aldridge dozieren ebenfalls im Rahmen dieses CAS und vermitteln Ideen und Methoden für eine kreativen und motivierenden Punktschriftunterricht.
Früher Pflicht, heute Chance
Früher besuchten alle Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung eine Sonderschule für Blinde. «Da haben dann auch Menschen die Brailleschrift gelernt, die sie heute nicht mehr lernen würden», sagt Vivian Aldridge. Reine Blindenklassen sind heute seltener geworden – im deutschen Sprachraum gibt es sie nicht mehr –, denn oft besuchen Kinder mit einer Sehbeeinträchtigung den Regelunterricht. Die institutionalisierten Rahmenbedingungen zum Erlernen der Brailleschrift haben sich damit stark gewandelt. «Das ist manchmal gut, manchmal aber auch nicht», findet Vivian Aldridge. Gerade wegen der technischen Fortschritte sei Braille wieder überall einsetzbar und mache die Punktschrift attraktiv: «Am iPhone ist das Schreiben mit VoiceOver mühsam und viele weichen auf Siri aus. Warum dann nicht gleich zur virtuellen Brailleeingabe am Smartphone?», fragt er. Mit etwas Übung gehe das viel schneller, als wenn man mit einer Sehbeeinträchtigung eine virtuelle Standardtastatur betätigen müsse.
Punkte fühlen
«Was man genau unter den Fingerkuppen spürt, wenn man einen Text in Brailleschrift liest, ist umstritten», sagt Petra Aldridge. Ihr Mann pflichtet ihr bei: «Die Punkte liegen 2.5 Millimeter auseinander. Das ist an der Auflösungsgrenze der Fingerkuppe.» Spürt man also die einzelnen Punkte oder vielmehr ein Punktemuster? «Während Kinder taktil eher Formen erkennen, ist es bei Erwachsenen genau umgekehrt», erklärt Petra Aldridge. So können sich Erwachsene in der Regel. Punktkombinationen vorstellen. Wenn sie dann noch eine visuelle Erinnerung haben, können sie daran anknüpfen, diese trainieren und pflegen. Zudem können späterblindende Menschen an ihre visuellen Lesekompetenzen anknüpfen. «Zuerst lernen alle, mit Tastübungen die Finger zu benutzen und Strukturen oder vertraute Gegenstände zu erkennen. Erst dann machen wir erste zaghafte Erkundungs- und Entzifferungsversuche auf Papier», erklärt Petra Aldridge. Beliebt sei zum Beispiel auch bei erwachsenen Klientinnen und Klienten die Suche nach «Alex», einem kleinen Punkt, der die Grösse eines üblichen Braillepunktes hat. Petra Aldridge erklärt: «Es gibt ein hervorragendes inklusives Lehrmittel. Es heisst ‹Alex und Lilani entdecken die Welt der Buchstaben›. Es lädt die Lernenden gleichermassen visuell und haptisch zum unbeschwerten Tasten ein und führt sie niederschwellig an die Brailleschrift heran.»
«Die Kunst ist, kleine Erfolgserlebnisse zu schaffen und darauf aufzubauen», erklärt Petra Aldridge weiter. Das wiederum sei bei Kindern leichter als bei Erwachsenen. «Oft sind sie frustriert, weil sie sich vorstellen können, wie lange es dauern wird, bis sie ein ganzes Buch in Brailleschrift lesen werden können.» Und dafür braucht es auch wirklich viel, viel Geduld. So ist es zwar relativ einfach, das Braillesystem zu lernen, doch bis die Finger die Punkte ertasten können, dauert es eine ganze Weile. Zum Teil mehrere Monate oder gar Jahre, je nachdem wie viel Erfahrung der oder die Lesende mit taktilem Lernen mitbringt und natürlich wie oft das Lesen und Schreiben in Brailleschrift geübt wird. Doch auch ohne gleich ganze Bücher zu lesen, gibt es viele einfache und alltagstaugliche Wege, Braille einzusetzen – und jeder ertastete Punkt ist ein Schritt zu mehr Selbstständigkeit.