Vom Klang der Bäume und Maschendraht

Wenn Pietro Londino mit der Zunge schnalzt, antwortet die Welt. Hausfassaden, Autos, Bäume und Baustellen nehmen Gestalt an und eröffnen sich seinen blinden Augen mit präziser Genauigkeit. Pietro macht von derselben Ortungstechnik Gebrauch, wie die Fledermäuse, Zahnwale und Delfine. Diese Tiere benutzen Rufe, um eine dreidimensionale Karte ihrer Umgebung zu erstellen und schliessen daraus auf ihre Umgebung.

von Antonietta Fabrizio

Zahnwale und Delfine bedienen sich der Echoortung um in trüben und dunkeln Gewässern zu navigieren und zu jagen. Bild: Wei-Chuan Liu

Auf dem Foto ist ein Weisswahl zu sehen: Auch Zahnwale und Delfine bedienen sich der Echoortung um in trüben und dunkeln Gewässern zu navigieren und zu jagen. Bild: Wei-Chuan Liu

Fledermäuse schätzen die Entfernung eines Gegenstandes ab, indem sie feststellen, wie lange der Klang braucht, um zurückzukehren. Pietro Londino ist blind und kann das auch. Er weiss nicht genau, wann und wie er die Klicksonartechnik, auch Echoortung genannt, gelernt hat, sie habe sich automatisch entwickelt. «Bereits als Kind kurvte ich mit dem Fahrrad auf dem Pausenplatz der Blindenschule um die Häuser und orientierte mich am Klicken.» Von den 85 Kindern, die damals mit ihm zur Schule gingen, erinnert er sich an einen einzigen Buben, der die Technik auch anwendete. Doch die Tatsache, dass die Echoortung heute weltweit als Weiterbildung angeboten wird, weist auf einen Trend hin.

Der blinde Amerikaner Daniel Kish analysierte die Klicksonartechnik systematisch und machte sie weltweit populär. Er erkennt eine daumendicke Stange auf einen Meter, einen Hydranten auf drei, ein Auto auf fünf und ein grosses Gebäude bereits aus fünfzig oder gar hundert Metern, wenn er es laut genug anschnalzt. Kish fährt im Gelände Mountainbike und orientiert sich mittels Echoortung. «Theoretisch ist alles möglich», fährt Pietro fort, «ich würde aber nie etwas tun, bei dem ich willentlich mich oder andere gefährde. Obschon ich den Reiz vom Mountainbike fahren im Gelände sehe».

Die Klicksonartechnik erweitert Pietros Wahrnehmung. Sie ersetzt den Weissen Stock zwar nicht, verlängert ihn aber um ein Vielfaches. Er klickt und stellt fest, wie gross der Raum ist, indem er steht. Er orientiert sich aber auch mit dem weissen Stock am Trottoir, damit er nicht einknickt und benutzt auch dessen Klang, um in einer Unterführung die Distanz zur Wand zu orten. «Manchmal sind Leute erstaunt, mit welcher Leichtigkeit ich mich bewege und orientiere, das alles aufs Klicken zurückzuführen, wäre aber nicht richtig.» Alles was uns umgibt, trägt eine eigene akustische Unterschrift. Einen Baum erkennt man daran, dass der Strunk ein anderes Echo zurückwirft, als die blätterhaltige Krone. Kish sagt, dass jeder Gegenstand je nach Fläche und Beschaffenheit einen spezifischen Hall zurückwirft. Etwas Glattes klingt
also anders, als etwas Raues.

Stimulation des Sehzentrums im Gehirn
Kanadische Forscher haben mittels Magnetresonanztomographie die Hirnaktivität von Testpersonen untersucht und festgestellt, dass die Echoortung den visuellen Kortex anspricht, also den Bereich, mit dem das Sehen verknüpft ist. Das Gehirn der Testpersonen trennte die Geräusche in zwei Kategorien und gab sie an zwei unterschiedliche
Hirnregionen weiter. Das was auch sehende Personen bewusst hören, kam in den Hörbereich des Gehirns und die davon abgetrennten Echos direkt in den Sehbereich des Gehirns. Um zu sehen, verlassen sich auditive blinde Menschen auf ihr Gehör. Zu diesen Menschen zählt auch Pietro. «Ich kann mehr erfassen und hab den grösseren Radius.» Wenn es aber auf seinem Weg sehr laut zu und her geht, wie etwa bei Baustellen, stösst er an seine Grenzen. «Da sind haptische Menschen besser dran. Ich bleib da schon mal stehen und sage, ich sehe vor lauter Krach nichts mehr.»