Emoti-sens: Gefühle erkennen – auch ohne Augen
Wie lernt ein blindes Kind, Freude, Wut oder Angst zu erkennen? Das SNF-Projekt Emoti-sens bietet mit seinen taktilen und akustischen Hilfsmitteln eine innovative Lösung zur Förderung emotionaler Kompetenzen. Zuständig für die Koordination des Programms an der Universität Genf sind Edouard Gentaz und Dannyelle Valente, Forschende im Bereich Psychologie an den Universitäten Genf und Lyon II. Kinder und Fachleute wirkten von Beginn an mit bei der Konzeption.
Von Michel Bossart, Redaktion tactuel

Im Alltag lassen sich Gefühle hauptsächlich vom Gesicht ablesen. Ein Lächeln, eine gerunzelte Stirn oder ein schmollender Mund sind klare Signale. Für blinde Kinder sind diese visuellen Botschaften jedoch nicht zugänglich. «Sie haben auch kaum Anhaltspunkte dafür, wie sich Gefühle im eigenen Gesicht ausdrücken. Diese Besonderheit macht es für sie anspruchsvoll, Emotionen zu verstehen und zu steuern», erklärt Dannyelle Valente. Viele Kinder tun sich deshalb schwer, die eigenen Gefühle zu benennen, die Gefühle der anderen zu begreifen und ihr Verhalten entsprechend anzupassen.
Um diesen Herausforderungen zu begegnen, setzt Emoti-sens auf einen multisensorischen Ansatz. Im Zentrum des Projekts steht ein pädagogischer Koffer mit verschiedenen Hilfsmitteln: ein Kit mit Texturen zur Darstellung von Emotionen, taktile Masken, die die ertastbaren Eigenheiten von Gesichtsausdrücken nachbilden, Klangübungen zur Sprachmelodie und eine multisensorische Hörgeschichte, die von der geburtsblinden Geschichtenerzählerin Yasmina Crabières gespielt wird. «Die Kinder können die Gesichtsmerkmale einer Emotion fühlen, Geräusche hören und dann versuchen, diese Konzepte mit ihrem eigenen Gesicht und ihrer eigenen Stimme nachzuahmen», so Valente.
Kinder als Partner
Das Besondere an diesem Projekt ist unter anderem das partizipative Vorgehen. «Die Kinder waren nicht einfach Studienobjekte. Sie haben die Texturen selbst ausgewählt, Aktivitäten getestet und unsere Entscheidungen unmittelbar beeinflusst», betont Valente. Da die Kinder die Materialien, die für sie Freude, Angst oder Traurigkeit symbolisieren, selbst gewählt haben, konnten sie eine persönliche Verbindung zum Programm aufbauen. Dank ihrer Mitwirkung konnten die Aktivitäten an die reellen Bedürfnisse der Kinder angepasst werden, was ihre Motivation steigerte.
Das Forschungsprojekt erfolgte in drei Etappen. In einem ersten Schritt trafen sich Fachpersonen aus dem Bereich Sehbeeinträchtigung, um die pädagogischen Ziele festzulegen. In einer zweiten Pilotphase wurde mit acht Kindern eine erste Version der Materialien getestet und entsprechend angepasst. In der Schlussphase nahmen rund zwanzig Kinder teil, die in kleine Gruppen bei Partnerinstitutionen aufgeteilt wurden. «Im Moment analysieren wird die letzten Ergebnisse dieser dritten Phase. Es gibt sieben Emoti-sens-Koffer, die in unseren Schulungen eingesetzt werden», präzisiert Valente.
Vielversprechende Ergebnisse
Die ersten Einsichten sind positiv. Kinder, die das Programm absolviert haben, konnten ihre emotionalen Kompetenzen verbessern – insbesondere beim Zuordnen von Gefühlen anhand der Stimme und beim Erkennen von emotionalem Verhalten. «Sie erinnerten sich vor allem an die taktilen Aktivitäten wie die Übungen mit Texturen und Masken», erzählt Valente. Die Merkfähigkeit der Kinder beweist, dass sie der sensorische Ansatz nachhaltig prägte. Die Fachpersonen sind sich einig, dass das Programm wertvoll und bedürfnisorientiert ist, da es eine seit langem bestehende Lücke füllt. «Das Erlernen von Emotionen stärkt das Selbstwertgefühl, das Vertrauen bei der Interaktion mit anderen und die Fähigkeit, eigene Gefühle zu regulieren. Für die schulische und soziale Inklusion ist dies eine Schlüsselkompetenz», meint Valente.

Schulung von Lehrpersonen
Emoti-sens richtet sich nicht nur an Kinder, sondern auch an Lehrpersonen und Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Diese können mittels schriftlicher Anleitungen und Video-Tutorials lernen, wie der Koffer benutzt wird. Dabei erfahren sie, wie sie die Kinder beim Erforschen von Gefühlen mit allen Sinnen begleiten können. Gemäss Valente haben mehrere Lehrpersonen beobachtet, dass diese Arbeit ihre eigene pädagogische Praxis inspirierte. Einige Lehrpersonen gaben an, dass sie dank den Übungen anders über Gefühle sprechen – auch mit sehenden Kindern. Der Koffer wird also zu einem vielseitigen Instrument, das über die Welt der Kinder mit Sehbeeinträchtigung hinausgeht.
Erweiterter Einsatz des Programms
Nach jahrelanger Forschung und vielen Tests möchte das Team das Programm nun breiter einsetzen. «Wir verfügen über einen pädagogischen Koffer, der wissenschaftlich getestet und validiert wurde. Derzeit arbeiten wir mit dem Verlagshaus Mes Mains en Or zusammen, um ein grösseres Publikum zu erreichen», erzählt Valente. So sollen die Hilfsmittel in weiteren Schulen und Institutionen eingesetzt werden können.
Zudem wird ein E-Learning-Programm entwickelt, damit sich Lehrpersonen online mit dem Programm vertraut machen können. Angeleitete Übungen und immersive Podcasts sollen das Angebot dereinst ergänzen. Da es sich um ein französischsprachiges Projekt handelt, sind sämtliche Hilfsmittel nur auf Französisch verfügbar.
Ein neues Projekt, finanziert vom Agora-Fonds des SNF, soll auch die Öffentlichkeit für die Bedeutung des multisensorischen Ansatzes sensibilisieren, der den Zugang zum Lernen erleichtert.
Grosse Motivation
Für Valente ist Emoti-sens ein gutes Beispiel für die Verknüpfung von Forschung und kreativer Gestaltung. «Was mich antreibt, ist die Erkenntnis, dass Forschung mit Kreativität einhergehen und zur Schaffung von konkreten, nützlichen Werkzeugen führen kann», erzählt sie. Seit rund zehn Jahren entwickelt sie diesen partizipativen Ansatz in den Bereichen Kunst, Kultur und Bildung weiter. «Bei Emoti-sens haben Fachpersonen und Kinder aktiv an der Ausarbeitung eines Hilfsmittels mitgewirkt, das auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist». Emoti-sens ist also nicht nur ein akademisches Projekt. Es ist vielmehr ein lebendiger Werkzeugkasten, der von und für Kinder gestaltet wurde, und der ihnen neue Wege eröffnet, sich auszudrücken und akzeptiert zu werden. Ein Weg, Gefühlen ein Gesicht zu geben – auch ohne Augen.


