Beitrag zur Erhaltung der Lebensgewohnheiten von sehbehinderten älteren Menschen

Der grosse Teil der älteren Menschen, die sich an die Beratungsstellen für Sehbehinderte wenden, erkundigen sich nach dem Rehabilitationsansatz. Um eine bedürfnisgerechte Beratung zu gewährleisten, ist es wichtig, dass die Fachpersonen eine umfassende Herangehensweise verfolgen, die auf dem bestehenden Knowhow der betroffenen Person aufbaut.

von Marie-Paule Christiaen und Daniel Nicolet

Sehbehinderungen schränken die Kommunikation, den Zugang zu Information und die Mobilität ein. Bild: Michael Drager

Eine alte Frau krault gekonnt längen im Schwimmbecken. Sie trägt eine Badekappe und eine Schwimmbrille: Sehbehinderungen schränken die Kommunikation, den Zugang zu Information und die Mobilität ein. Bild: Michael Drager.

Sehbehinderungen bei älteren Menschen
Bei den Klientinnen und Klienten des Informations- und Rehabilitationszentrums (CIR), einer Fachstelle der Association pour le Bien des Aveugles et Malvoyants, (ABA) in Genf handelt es sich weitgehend um ältere Menschen. Im Jahr 2012 waren 57 Prozent der Personen, bei denen Dienstleistungen zu Hause erbracht wurden, über 75 Jahre alt und 29 Prozent waren älter als 85 Jahre. Die meisten litten an einer altersbedingten Makuladegeneration (AMD). Sehbeeinträchtigungen schränken die mediale Kommunikation, den Zugang zu Informationen und die Mobilität ein. Es besteht die Gefahr, dass Alltagsaktivitäten nicht mehr ausgeübt werden können, wodurch die Lebensqualität sinkt.

Das Auftreten einer Sehbehinderung schwächt die betroffene Person. Durch die herabgesetzte Wahrnehmung wird die Ausführung vieler Bewegungsabläufe beeinträchtigt, wodurch das Vertrauen in die Fähigkeit, gewisse gewohnte Tätigkeiten auszuführen, verloren geht. Manchmal suchen betroffene Menschen unsere Low Vision-Beratung in dieser destabilisierenden Phase auf, mit der grossen Erwartung, das «Sehvermögen von früher» wiederzuerlangen.

Eine Abnahme der Sehschärfe wird von den betroffenen Personen regelmässig als Eindruck, im Nebel zu sein, beschrieben, was Informationsbeschaffung sowie Präzisionsaufgaben erschwert. Die Folgen eines verminderten Kontrastsehens stellen eine bedeutende Beeinträchtigung dar. Sie kommen in der Schwierigkeit zum Ausdruck, Gesichter oder den Inhalt seines Tellers zu erkennen, unterwegs bestimmte Hindernisse zu identifizieren und Texte zu lesen, die auf farbigem Hintergrund oder in blassen Farbe gedruckt sind.

Die Ergotherapeuten und die Aktivitäten
Die Abklärungen der Ergotherapeutinnen und -therapeuten, die in Low Vision spezialisiert sind, betrachten die Situation ganzheitlich und berücksichtigen alle Alltagsaktivitäten. Die Wünsche und Bedürfnisse der sehbehinderten Personen werden analysiert, und die Merkmale ihres Umfelds sowie die Art, ihre gewohnten Tätigkeiten auszuüben, beobachtet. Ausgehend von einem bio-psycho-sozialen Verständnis der Behinderung baut sie auf den Ressourcen, Kompetenzen und dem  Knowhow der betroffenen Person auf und nutzt sie. Das ganze sensorische Potenzial der Person, einschliesslich der noch vorhandenen Sehmöglichkeiten,
wird mobilisiert.

Die Alltagsaktivitäten, die die Person als wichtig erachtet, werden von der Ergotherapeutin vereinfacht oder angepasst, so dass sie selbstständig und sicher ausgeübt werden können. Wenn nötig werden Hilfsmittel vorgestellt und ausprobiert. Oft ist ein Training erforderlich, damit sie wirksam benutzt werden können. Die Hilfsmittel sind zahlreich, und das vielfältige Angebot reicht von der sprechenden Uhr über Schreibhilfen bis zu einer grossen Vielfalt an Vergrösserungshilfen.

Eine Optimierung der Beleuchtung und der Kontraste sowie das Anbringen von Orientierungspunkten erleichtern es der betroffenen Person, ihre Gewohnheiten in ihrem Umfeld beizubehalten. Diese Anpassungen sind entscheidend für die Wahrung der Selbstständigkeit und die Reduktion von Behinderungssituationen. Mit jeder Person wird ein individuelles Projekt erarbeitet. Die Interventionen werden in ihrer Häufigkeit und Intensität an das angestrebte Ziel angepasst. Sie können über eine lange Zeit oder
punktuell erfolgen. Je nach Bedürfnissen finden sie in den Räumlichkeiten des CIR oder im Lebensumfeld des Klienten statt, entweder bei ihm zu Hause oder an Orten, die ausgehend von den Zielen ausgewählt wurden.

In der Ergotherapie werden spezifische Aktivitäten, Umweltanpassungen und Beratung gezielt und ressourcenorientiert eingesetzt. Bild: Michael Drager

Die ältere Frau steht am Beckenrand: In der Ergotherapie werden spezifische Aktivitäten gezielt und ressourcenorientiert eingesetzt. Bild: Michael Drager.

Die Herangehensweise der Fachstelle
Das CIR nimmt die Rolle eines Ressourcenvermittlers wahr. Die Mitarbeitenden, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter und die spezialisierten Ergotherapeutinnen und -therapeuten informieren über die verschiedenen spezifischen Angebote (Verkehrsmittel, Televox, Hörbücherbibliotheken, Grossdruckbücher, Selbsthilfeorganisationen usw.) und erleichtern den Zugang zu Sozialleistungen und angepassten Freizeitaktivitäten. Die Durchführung von Gruppenaktivitäten stellt eine Bereicherung für die  etroffenen dar. Der Austausch bestärkt ihre Bewältigungsfähigkeiten, indem sie auf eigene Erfahrungen zurückgreifen, um Lösungen für geschilderte Probleme  vorzuschlagen. Die Ergotherapeuten können ihr Wissen gezielt einfliessen lassen. Die Information und die Sensibilisierung des Umfelds tragen dazu bei, die Lebensqualität der älteren Personen zu verbessern. Das CIR engagiert sich dafür, dass Sehbehinderungen sowohl im medizinisch-sozialen Bereich als auch von den Partnern der Stadt stärker berücksichtigt werden, zum Beispiel durch Förderung des Zugangs zur Kultur.


Schlussfolgerung

In einer Gesellschaft, in der es eine Flut an visuellen Informationen gibt, hat eine Sehbehinderung zur Folge, dass ältere Menschen noch verletzlicher werden. Der umfassende Ansatz in der Gerontologie, der das funktionelle Sehen einschliesst, ermöglicht es, den spezifischen Bedürfnissen dieser Bevölkerungsgruppe Rechnung zu tragen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Die Bedürfnisse alter Menschen verändern sich mit der Zeit. Ältere Menschen müssen sich neue Informations- und Kommunikationstechnologien aneignen. Die Rehabilitationsfachleute begleiten sie, wenn sie von Sehbeeinträchtigungen betroffen sind.

Marie-Paule Christiaen ist Ergotherapeutin und in Low Vision spezialisiert, M. Sc. EdA. Sie ist stellvertretende Leiterin des Informations- und Rehabilitationszentrum (Centre d’Information et de Réadaptation, CIR) in Genf. Daniel Nicolet ist Ergotherapeut und in Low Vision und Mobilität spezialisiert. Er leitet den Bereich Ältere  Menschen ebenfalls am CIR.