Besonderheiten der Rehabilitation

Die Lebensqualität älterer Menschen stellt in den kommenden Jahren eine zentrale Herausforderung dar. Die Rehabilitation von Menschen, die eine Spätsehbehinderung erfahren, muss punkto Hilfeanspruch, Rehabilitationsziele und Anpassungsfähigkeit dieser Menschen angepasst werden. Denn sie unterscheidet sich weitgehend von jener für erwachsene Menschen mit einer Langzeit-Sehbehinderung.

von Pierre Griffon

Das Auftreten einer Sehschädigung bei älteren Menschen kann das Altern stark beschleunigen.

Ein älterer Mann geht vom alter geschwächt am Stock durch einen besonnten Gang. Das Auftreten einer Sehschädigung bei älteren Menschen kann das Altern stark beschleunigen. Bild: Igor Terekhov.

Das Auftreten oder das Fortschreiten einer Sehschädigung bei älteren Personen kann die Beschleunigung des Alterns in Gang setzen, und die betroffene Person stark beeinträchtigen, wenn sie unangemessen angegangen wird.

Sehschädigungen offenbaren das Alter. Ältere Menschen werden sich aufgrund einer verminderten Sehleistung auf einen Schlag oder  zumindest in beschleunigter Weise ihres Alters bewusst. Dieses Bewusstwerden wird im Allgemeinen umso länger  herausgeschoben, je fortgeschrittener das Alter ist. Wir definieren unser Alter laufend neu – wir wissen alle, dass wir täglich etwas älter werden – und erfassen es nur schrittweise. Wenn wir nämlich wider Erwarten über eine unangenehme Offensichtlichkeit stolpern, welche eine neue Unfähigkeit oder eine bisher ignorierte Tatsache deutlich macht, spüren wir das Alter. Diese Offensichtlichkeit drückt sich darin aus, dass wir eine Steigung nicht mehr schaffen, ohne eine Pause einzulegen, neues weisses Haar entdecken oder eben eingeschränkt Sehen.

Ein einziges Sandkorn kann ausreichen
Das dritte Lebensalter ist durch die Stabilität alter und fester sozialer Kontakte und Beziehungen gekennzeichnet. Die Menschen haben in der Nachbarschaft und Familie ein Netz an Beziehungen, Aktivitäten oder Unterstützung aufgebaut, die zu untentbeh- lichen Grundsteinen ihrer Autonomie wurden. Eine Sehbehinderung könnte diese Grundlage gefährden. Betroffene sind dadurch gezwungen, einen Prozess zu durchlaufen, den wir als «soziale Dekompensation» bezeichnen können.

So ist beispielsweise die Unabhängigkeit beim Einkaufen, von der uns eine Person erzählt, ein wichtiger Aspekt der Autonomie. Alle Fähigkeiten, die für den Weg, die Auswahl und den Transport der Einkäufe erforderlich sind, sind durch die Sehbehinderung erschwert, aber die Person wusste diese Lücken durch die Inanspruchnahme von Unterstützung (oder anders ausgedrückt durch soziale Kompensation) schrittweise zu kompensieren. Diese Unterstützung ist auf zahlreiche Akteure verteilt, so dass die Autonomie einem Kartenhaus gleicht. Wenn eine Karte wegfällt, zum Beispiel wenn die Einkäufe nicht mehr zur gleichen Zeit gemacht werden können, werden die anderen Karten auch fallen. Die anscheinend aufrechterhaltene Autonomie hält nur, wenn sich nichts verändert. Sind kompensierende Voraussetzungen aus  irgendeinem Grund nicht mehr da, ist es sehr schwierig, einen vergleichbaren Prozess einzuleiten oder den alten wieder zu beleben. Das Unterstützungs- und Beziehungsnetz, das der Person Autonomie gab, ist durch eine Veränderung in der Lebensweise aufgelöst.

Schliesslich haben ältere Menschen vielfach Schwierigkeiten, sich auf wirksame Trauerarbeit einzulassen. In der Praxis kommt es oft zu einer depressiven Abkapselung. Die Behinderung wird schmerzlich integriert, nachdem sie lange verneint worden ist. Das Leben beginnt wieder, geht weiter, aber die Stimmung ist bedrückter, der Antrieb vermindert und es besteht eine hohe Frustrationsempfindlichkeit gegenüber visuellen Wünschen oder Vergnügen. Dieses leicht depressive Verhalten kann langsam abnehmen. Häufiger dauert es aber fort, auch wenn die unmittelbaren Folgen der Sehbehinderung dank Kompensation verringert und eine gewisse Autonomie wieder ermöglicht werden kann.

Es ist an uns zu reagieren
Aus diesen Gründen muss unsere Rehabilitationsarbeit angepasst werden. Senioren, die vor kurzem sehbehindert wurden, formulieren oft allgemeine Rehabilitationswünsche oder Wünsche, die sich nicht genau auf ihre Schwierigkeiten beziehen, etwa wieder lesen können, sich alleine fortbewegen oder sich auf eine mögliche Verschlechterung der Sehbehinderung vorzubereiten.

Die erste Erfordernis im Hinblick auf diese Wünsche ist es, keine Antworten zu geben, die zwangsläufig allgemein wären, sondern versuchen, von der betroffenen Person Präzisierungen zu erfahren. Die Erwartungen sind oft zu hoch. Betroffene wollen wieder die volle Leistungsfähigkeit erlangen, welche vor der Sehbehinderung und dem Älterwerden da war. Funktionelle Auswirkungen der Sehbehinderung können zwar so gut es geht kompensiert werden, eine Rehabilitation kann aber die Zeit nicht zurückdrehen.

Es ist darum äusserst wichtig, betroffene Menschen präzisieren zu lassen, was Lesen oder Fortbewegung für sie heisst. Auch sollte das tatsächliche Niveau der Autonomie unmittelbar vor der Sehverschlechterung ermittelt und ausgehend davon festgestellt werden, welche Unabhängigkeit angestrebt werden kann. Ziele müssen genau bezeichnet werden, also nicht einfach das «Lesen allgemein», sondern das «Lesen einer bestimmten Zeitschrift» oder eines bestimmten Kochbuchs zu ermöglichen. Für Betroffene ist es einfacher später diese Ziele auszuweiten, als hochgesteckten Zielen nachzueifern. Die zweite Bedingung für diese Art von Arbeit besteht darin, den Praxisbedingungen viel Raum zu geben. Die vom Patienten dargelegten Schwierigkeiten werden von Orthopisten, Ergotherapeuten und Psychomotoriktherapeuten (Anmerkung der Redaktion: In der Schweiz vor allem durch Low Vision Fachpersonen, Optikerinnen und Optiker und Augenärztinnen und Augenärzte) behandelt, die verschiedene analytische Übungen mit umfeldbezogenen Arbeiten kombinieren. Dabei versuchen sie, einen möglichst nahen Bezug zur Alltagsrealität des Patienten herzustellen. Dazu ist effektiv ein multidisziplinäres Vorgehen erforderlich: Jede Fachperson muss die Art der durch die anderen erbrachten Interventionen und Massnahmen genügend gut kennen, damit sich ihre Aktivitäten in kohärenter Weise mit jenen der anderen ergänzen.

Schliesslich ist bei dieser Arbeit eine psychologisch geprägte Unterstützung für die ältere Person erforderlich, in deren Rahmen unterschieden werden sollte, welche Schwierigkeiten auf die Sehbehinderung und welche auf andere Faktoren, wie das Älterwerden, zurückzuführen sind. Es geht darum zu ermöglichen, die Auswirkungen der Sehbehinderung in die Realität zu integrieren, ohne dass sich die betroffene Person nur darüber definiert, was nicht mehr da ist.

Pierre Griffon ist klinischer Psychologe und in der Fondation Hospitalière Sainte-Marie in Paris tätig. Zudem ist er Lehrbeauftragter an der Universität Paris V (René Descartes) und am CNAM (Conservatoire National des Arts et Métiers). Literaturhinweise finden Sie unter www.pierre-griffon.com. Sein Text wurde durch Stefan Spring, Forschungsbeauftragter des SZBLIND, in der deutschen Fassung leicht auf die schweizerische Interventionsrealität angepasst. Der SZBLIND führt seine Überlegungen im Rahmen einer eigenen Studie weiter, siehe dazu Hinweis auf Seite 10.