Bauherren und Altersfachleute müssen den Dialog miteinander aufnehmen

Im Januar wurde die Arbeitsgruppe „Gerontologische Architektur“ der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie mit grosser Resonanz gegründet. Ihr Ziel ist es, dass die Anforderungen älterer Menschen an die gebaute Umwelt mehr Beachtung findet. Felix Bohn, Initiant und Leiter der Arbeitsgruppe, nimmt zu diesem ambitionierten Vorhaben Stellung.

von Stefan Müller

tactuel: Die Wirtschaft hat in den letzten Jahren immer mehr die Seniorinnen und Senioren als Marktsegment entdeckt. Herr Bohn, besteht in der Architektur überhaupt Nachholbedarf?

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Felix Bohn ist Architekt, Ergotherapeut, Lichtdesigner und Gerontologe. Er
leitet den Fachbereich Altersgerechtes Bauen bei der Schweizerischen
Fachstelle für behindertengerechtes Bauen und ist selbstständiger Berater.
Bild: privat

Felix Bohn: In der Architektur besteht leider ein grosser Nachholbedarf, trotz des vor bald zehn Jahren in Kraft gesetzten Behindertengleichstellungsgesetzes und der entsprechend angepassten kantonalen Baugesetze. Bei vielen Baubehörden und Planenden herrscht nach wie vor die Meinung vor, eine alters- und behindertengerechte Bauweise sei ein freiwilliger, karitativer Akt.

Wie kann da Aufklärungsarbeit geschehen?

Gerontologie ist das Wissen vom Alter und vom Altern. Gerontologische Architektur meint also nicht „spezielles Bauen für alte Menschen“, sondern eine Architektur, bei der immer das Wissen um die Bedürfnisse älterer Menschen miteinfliesst. Eine ganz zentrale Aussage der gerontologischen Architektur ist, dass das Planen von altersgerechtem Wohnraum und Aussenraum keine reine Bauaufgabe ist. Bei der Planung und Ausführung müssen immer auch Altersfachleute in den Teams mitwirken. Bauherren sollten sich immer beraten lassen. Genauso selbstverständlich, wie sie einen Bauingenieur für die Statik oder einen Energiespezialisten beiziehen, sollte gerontologisches Wissen von Anfang an in die Planung einfliessen.

Sie wollen altersgerechtes Bauen im Sinne des „Design for all“ zur Norm machen: Wie sieht das konkret aus?

„Design for all“ heisst, dass man erkennt, dass Normalität ein grosses Spektrum umfasst. Konkret bedeutet „Design for all“ mit Blick auf alle Bevölkerungsgruppen, dass Stufen und Schwellen zu vermeiden sind, Bodenbeläge eben, matt und rutschsicher sein müssen, alle wichtigen Bedienungselemente auf einer Höhe zwischen 80 und 110 Zentimeter montiert sind oder dass zur optimalen Orientierung ausreichende Kontraste, eine gute Beleuchtung und Signaletik eingesetzt wird.

Altersgerechte Architektur hat also auch einen volkswirtschaftlichen und einen gesellschaftlichen Nutzen…

Genau! Dank altersgerechten Wohngebäuden und einem altersfreundlichen öffentlichen Raum können ältere Menschen länger selbstständig leben, können Unfälle vermieden werden, sind weniger Spitex-Einsätze nötig und der Gang ins Heim kann hinausgeschoben werden oder wird gar nicht nötig. Neben dem nahe liegenden individuellen Gewinn an Lebensqualität für die älteren Menschen bedeutet dies auch ein beachtliches Sparpotenzial im Gesundheitswesen.

Können Sie ein Beispiel in der Schweiz nennen, wo Ihr Postulat  konsequent umgesetzt wurde?

Das perfekte Projekt gibt es nicht. Das Domicil Lentulus, eine Wohnanlage für ältere Menschen in Bern, ist aber aus meiner Sicht ein vorbildliches Beispiel einer solchen Umsetzung.

Wo sehen Sie Hürden, die es zu überwinden gilt?

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Der Boden matt und rutschsicher, das Geländer auf Handhöhe – so kann gerontologische Innenarchitektur beispielhaft aussehen. Aufnahmen aus dem Domicil Lentulus in Bern.
Bild: kurzschuss photography

Vor allem in den Köpfen. Es sind meist Ängste da, dass altersgerechtes Bauen generell mehr kostet, dass dieses einer Wohnung Pflegeheimcharakter vermittelt und dass nur eine Minderheit der potenziellen Nutzer von den Massnahmen profitiert. Ausserdem verfolgen Planende auf der einen Seite und Gerontologen und Pflegefachleute auf der anderen Seite in der Regel nicht dieselben Ziele. Hier muss im fachlichen Austausch auf Augenhöhe die optimale Lösung gefunden werden.

Mit Blick auf blinde und sehbehinderte Menschen stellt sich die Frage, wer konkret deren Bedürfnisse wahrnimmt.

Deshalb ist es auch wichtig, dass sich sehbehinderte Menschen und ihre Interessenvertreter in der Arbeitsgruppe engagieren. Das Älterwerden ist oft mit körperlichen Einschränkungen in vielen Bereichen verbunden, sowohl Gehen, Sehen oder Hören können beeinträchtigt sein. Wer also für ältere Menschen plant, berücksichtigt immer auch gleichzeitig die Bedürfnisse jüngerer geh-, seh- und hörbehinderter Menschen, aber auch von Eltern mit Kinderwagen, Ferienreisenden mit schweren Rollkoffern, Geschäftsleuten im mittleren Alter, welche ihre Lesebrille vergessen haben oder Jugendlichen mit einem Gehgips.

Welche Pläne und Projekte nimmt die Arbeitsgruppe als erstes in Angriff?

In einer Anfangsphase geht es darum, die Interessen abzufragen. Deshalb werden wir den Teilnehmern der Startsitzung einen Fragebogen verschicken. Mögliche Themen für ein kommendes Treffen sind das Thema Licht – Farbe – Kontrast oder die Frage Einbettzimmer oder Zweibettzimmer im Heim. Es geht darum, voneinander zu lernen, das Wissen zu erweitern und zu verbreiten mit dem Ziel, die Selbstständigkeit und Sicherheit älterer Menschen in der baulichen Umwelt zu optimieren.

www.sgg-ssg.ch und www.gerontologische-architektur.ch

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Über die Arbeitsgruppe

Ein Treffen der interdisziplinären Arbeitsgruppe ist zweimal jährlich geplant. Auf den Webseiten sollen Hinweise zu Veranstaltungen, neue Erkenntnisse, vorbildliche Ansätze und Projekte und interessante Forschungsergebnisse aufgeschaltet werden. Medienkontakte und Tagungen tragen das Thema in eine breitere Öffentlichkeit. Besonders wichtig ist Felix Bohn aber auch das Empowerment von Heimleitungen, Pflegefachpersonen und älteren Menschen.