Die «Ethik der Fürsorge» will Abhängigkeitsbeziehungen neu betrachten

Die Philosophin Eva Feder Kittay vertritt eine «Ethik der Fürsorge» im Umgang mit Menschen mit einer bestimmten Behinderung. Statt Abhängigkeit schlecht zu reden, sollten wir lernen, abhängige Beziehungen wertzuschätzen und uns um eine «echt fürsorgliche Haltung» zu bemühen.

von Ann-Katrin Gässlein

In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren trat in den USA die «Selbstbestimmt-Leben-Bewegung » in Erscheinung. Die Hauptanliegen der meist jungen, intellektuellen, begabten und männlichen Protagonisten: Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Für die Philosophin Eva Feder Kittay, selbst Mutter einer schwer geistig behinderten Tochter, dachten diese Vorkämpfer zu kurz: Sie hinterfragten die «Norm der Unabhängigkeit» nicht kritisch, sondern übernahm sie.
Wenn man Unabhängigkeit zum absoluten Massstab einer freien Gesellschaft setzt, liegt es nahe, Fürsorge vor allem instrumentell zu betrachten, Fürsorge (englisch: care) wird dann, wie sie schreibt, «eine Massnahme, die sich dem Einzelnen aufdrängt und in sein oder ihr Leben eindringt, was den behinderten Menschen zum Bittsteller macht und den Fürsorgenden zum Teil des Problems.» Nicht nur der Staat und bestimmte Teile der Gesellschaft seien dafür verantwortlich, dass Abhängigkeit erzeugt wird, sondern auch professionelle Anbieter von Dienstleistungen und Fürsorgende – sie seien gleichsam mitschuldig.

Jeder steht in Beziehungen
Eva Feder Kittay geht aber von der Überzeugung aus, dass Fürsorge unabdingbar und sogar zentral ist für ein gutes Leben für Menschen mit einer bestimmten Art von Behinderung. Ihr ist bewusst, dass eine Ethik, die auf care – auf «Fürsorge» – basiert, aber anders funktioniert als eine Gerechtigkeitsethik. Care Ethik sieht den einzelnen Menschen nicht grundsätzlich von anderen getrennt. Jeder Mensch stehe in Beziehungen, und es gebe auch solche zwischen Menschen, die hinsichtlich ihrer Fähigkeiten und Kräfte nicht gleich seien. Diese Beziehungen seien von Verantwortung geprägt. Eva Feder Kittay hält es für fatal, Abhängigkeitsbeziehungen nur als «bedauerlich» zu betrachten, «deshalb wenn möglich zu vermeiden oder wenn nötig herunterzuspielen.» Eine Maschine könne in manchen Fällen einen Assistenten ersetzen – doch eine solche Betrachtungsweise kann dazu führen, Fürsorgende abzuwerten und instrumentell zu behandeln. Viel besser sei eine Beziehung, in welcher geprüft wird, wie Abhängigkeit zu echtem gegenseitigem Respekt führen kann. Ihre Antwort: durch eine positive affektive Bindung, durch eine gegenseitige Haltung der Zuneigung. So wird beispielsweise Hilfe bei einer intimen Tätigkeit nicht unangenehm, sondern ein Zeichen für Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit, für beide angenehm und würdevoll. Gleichzeitig muss Fürsorge angemessen vergütet werden.
Schliesslich betrifft Abhängigkeit alle Menschen in verschiedenen Phasen des Lebens. Einerseits Abhängigkeit selbst zu erleben, als Kind, in Krankheit oder im Alter, und andererseits als Fürsorgende Verantwortung zu tragen, mache die Spezies «Mensch» aus. Fürsorge habe auch eine gesellschaftspolitische Dimension: Als «Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen der Anderen » ist sie mehr als nur «Schutz gegen unzulässige Einmischungen und Garantie von Chancengleichheit.»