Mirko Baur leitete während zehn Jahren die Schweizerische Stiftung für Taubblinde Tanne im zürcherischen Langnau am Albis. Im Gespräch mit tactuel spricht der 52-jährige Sonderpädagoge über die Situation von hörsehbeeinträchtigten Menschen in der Schweiz, die Zusammenarbeit der Tanne mit dem SZBLIND und seine Kritik an der REVISA-Studie.

Das Bild zeigt die Gebäude der Tanne in Langnau am Albis.
Die Tanne in Langnau am Albis bietet vielfältige Dienstleistungen für taubblinde Menschen an. / Bild: Tanne

von Michel Bossart

Herr Baur, in welchen Bereichen arbeitet die Tanne mit dem SZBLIND zusammen?
Bei allen Sensibilisierungsangeboten, bei der politischen Arbeit und bei der Durchsetzung der Rechtsanforderungen. Dies natürlich auch in enger Zusammenarbeit mit der Fondation Romande SourdAveugles (FRSA) und der Taubblinden-Hilfe. Grundsätzlich kann man sagen, dass sich der SZBLIND für Menschen mit erworbenen Formen von Hörsehbeeinträchtigungen einsetzt, während die Tanne sich um Menschen mit prälingualer Hörsehbeeinträchtigung kümmert. Das sind Menschen, bei denen der Hörsehverlust vor der «Entdeckung der Sprache» eingetreten ist, meist also vor dem zweiten Lebensjahr.

Als scheidender Gesamtleiter der Tanne und als Präsident von Deafblind International stehen Sie auch im regen Austausch mit der European Deafblind Union. Was macht die EU in Bezug auf Taubblindheit besser als die Schweiz?
In der EU gibt es bereits seit 2004 eine Deklaration, die die Rechte und die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Taubblindheit anerkennt, zum Beispiel das Recht auf 1:1 Unterstützung durch eine spezifisch ausgebildete Kommunikationsassistenz. Das hat unter anderem in Deutschland zum «Merkzeichen Taubblind» TBI geführt, womit im Bundesteilhabegesetz Hörsehbeeinträchtigung als Behinderung eigener Art anerkannt wird. Gerade kürzlich hat unser Bundesrat hingegen entschieden, dass es in der Schweiz keinen spezifischen Handlungsbedarf gebe in der Förderung von betroffenen Kindern…

Gibt es auch etwas, das in der Schweiz in Sachen TBl besser läuft als in Europa?
Die Schweiz verfügt über ein gesichertes und qualitativ gutes Sozial- und Bildungssystem. Das ist toll. Allerdings werden sie den spezifische Ansprüchen von Kindern und Erwachsenen mit Hörsehbeeinträchtigung oft nicht genügend gerecht. Da gibt es noch sehr viel Entwicklungsarbeit.

2022 wurde die zweite REVISA-Studie abgeschlossen. Sie kritisieren, dass es vermutlich viel mehr betroffene Kinder gibt, als von der Studienleitung festgestellt wurde. Wie kommt es Ihrer Meinung nach zu einer fast doppelt so hohen geschätzten Anzahl?
Die Daten für die Studie kamen ausschliesslich aus spezialisierten Institutionen für Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung sowie aus der Tanne und wurden ergänzt mit verfügbaren kantonalen Daten. Das kann unmöglich eine «Vollerhebung» sein. Ein Blick über die Grenze hätte gereicht: In Deutschland geht man aufgrund von Studien von einer mindestens doppelt so hohen Prävalenz aus.

Warum ist es denn so schwierig, eine Hörsehbeeinträchtigung zu erkennen?
In Europa handelt es sich oft um Menschen mit einer Mehrfachbehinderung. Die Lage ist komplex, die Diagnose schwierig. Studien zeigen etwa, dass Hörsehbehinderung bei kognitiver Beeinträchtigung oft nicht festgestellt wird. Dazu kommen Symptomüberlappungen mit Autismus. Das Verhalten der betroffenen Person sieht ähnlich aus, die Ursache könnte aber eben nicht Autismus, sondern eine Hörsehbeeinträchtigung sein.

Weiter kritisierten Sie das Fazit der Studie: In der Schweiz sei die spezifische Unterstützung für betroffene Schulkinder gewährleistet. Warum stimmt das Ihrer Meinung nach nicht?
Die Studie berücksichtigte neben der Tanne ausschliesslich Institutionen für Sehbeeinträchtigung. Hörsehbeeinträchtigung ist jedoch eine eigene Art von Herausforderung mit einer spezifischen Bedarfslage, die entsprechend eine besondere Fachkompetenz verlangt. Ich bin hingegen sehr einverstanden mit der Aussage der Studie, dass es in der Schweiz nicht 26 verschiedene kantonale Lösungen braucht. Eine bessere interkantonale Koordination ist daher dringend nötig.

2019 fand die dritte Ausgabe des Forums Hörsehbehinderung statt. Mit der politischen Aktion «Make a noise» wollte man auf den internationalen Tag der Taubblindheit, der jeweils am 27. Juni stattfindet, aufmerksam machen. Ihr Fazit?
An diesem Tag geht es hauptsächlich um die Sensibilisierung. In der Schweiz ist der Tag der Taubblindheit eingebettet in eine Aktionswoche und Teil der weltweiten Aktion von Deafblind International. Die letzten zwei Mal ging es bei uns ums Essen: Essen im sozialen Kontext ist für Betroffene eine grosse Herausforderung, gerade auch die Interaktion am Tisch. Es ging uns darum zu zeigen, dass eine Partizipation dennoch gelingt, wenn eine individuell passende Unterstützung zur Verfügung steht.

Es wurde auch vorgeschlagen, nicht die medizinischen, sondern die sozialen Fähigkeiten als Ausgangsbasis für die Definition der Bedürfnisse heranzuziehen. Funktioniert das heute besser als damals?
Das ist nach wie vor und weltweit ein Thema und es besteht weiterhin Handlungsbedarf. Wir müssen längst weg von einer medizinischen Definition hin zu einem bio-psycho-sozialen Verständnis von «Behinderung» auf der Basis der ICF (Red. International Classification of Functioning, Disability and Health). Vereinfacht gesagt, geht es darum, festzustellen, wie gut jemand im realen Alltag und Umfeld  beispielsweise sieht, hört und mit den Sinnen «funktioniert», die ihm oder ihr zur Verfügung stehen. Das ist längst nicht immer deckungsgleich mit der rein medizinischen Lage.

Ein weiterer Workshop während des Forums thematisierte die Interessenvertretungen: Es wurde gefordert mehr zu agieren, statt zu reagieren. Können Sie ein Beispiel nennen?
In der Schweiz haben wir passend zur weltweiten Bildungskampagne von Deafblind International soeben eine neue Fachstelle gegründet: Die DeafBlind Inclusion. Sie bietet eine unabhängige, aufsuchende Beratung und Unterstützung für Kinder und Erwachsene mit prälingualer Hörsehbeeinträchtigung – wo auch immer sie wohnen, zur Schule gehen oder arbeiten. Wie der Name sagt, wollen wir inklusiv und nicht integrativ wirken. Betroffene sollen von Beginn an mitwirken. Wir hoffen, damit auch die organisierte Selbsthilfe reanimieren zu können.

Zurück zur Tanne: Hier wurde ab 2015 die Gebärden-Sammlung «PORTA» entwickelt. Erzählen Sie…
PORTA ist eine Sammlung von Gebärden, die sich sehr gut für Menschen mit prälingualer TBI, für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und auch für kleine Kinder eignet. Die Gebärden werden eingesetzt beim Sprechen, sind kompatibel mit der regionalen Gebärdensprache und können auch taktil unter der Hand ausgeführt werden. PORTA hat sich inzwischen in der Deutschschweiz durchgesetzt und steht am Start im Tessin. Es gibt auch eine App, die breit und rege gebraucht wird. PORTA ist ein gutes Beispiel für einen Schritt in Richtung Inklusion, gerade weil die Sammlung verbindet zwischen Laut- und Gebärdensprache.

Die ganze Schweiz klagt über den Fachkräftemangel. Auch Sie? Wie findet beispielsweise die Tanne geeignetes Personal?
Je nach Einsatzort bietet die Tanne Stellen mit unterschiedlichen Anforderungsprofilen. Wer zum Beispiel unterrichtet, hat ein Lehrdiplom mit einer heilpädagogischen Zusatzausbildung. Hier hatte die Tanne die letzten zehn Jahre  keinen Fachkräftemangel. Es scheint eine reizvolle Herausforderung für Lehrpersonen zu sein, in der Tanne unterrichten zu können. Anders sah es im sozialpädagogischen Bereich aus: Hier kam es ab Mitte Pandemie bis Herbst 2023 zu einem spürbaren Fachkräftemangel, der sich dann aber wieder beruhigt hat.  

Welche Rolle spielen Familienmitglieder in der ausserfamiliären Betreuung hörsehbeeinträchtigter Kinder?
Die Familie lässt sich auf keinen Fall outsourcen! Niemand kann die eigene Familie ersetzen. So versteht auch die Tanne das Internat als familienergänzend und alles passiert in enger Zusammenarbeit mit den Eltern. Überhaupt geht es gerade bei Hörsehbeeinträchtigung immer um Zusammenarbeit – sonst ist das nicht bedarfsgerecht und nachhaltig.

Im Grossen und Ganzen: Welches sind die grössten Herausforderungen, mit denen hörsehbeeinträchtigte Menschen – unnötigerweise – in der Schweiz konfrontiert sind?
Die Sensibilisierung auf Taubblindheit ist noch nicht ausreichend gewährleistet. Das Angebot für Betroffene ist bis zu einem gewissen Grad zufällig. Ungenügend ist meiner Meinung nach gerade die Finanzierung der kommunikativen Unterstützung. Dabei ist Kommunikation wesentlich für die Teilhabe an jedem Lebensbereich. Und im Arbeitsmarkt gibt es praktisch nur Barrieren. Es schmerzt; aber wer in der Schweiz eine Hörsehbeeinträchtigung hat, dessen oder deren Rechte, die in der Behindertenrechtskonvention niedergeschrieben sind, sind gefährdet. Die ganze Community hat noch viel Arbeit vor sich. Das gelingt nur, wenn wir alle zusammenarbeiten und Hand in Hand vorangehen.

Das Bild zeigt Mirko Baur, der mit einem breiten Lächeln in die Kamera strahlt.
Mirko Baur / Bild: zVg