Barrierefreiheit als Grundverständnis beginnt im Kopf

von Christian Lohr

Bei der Diskussion um Barrierefreiheit geht es weder nur um technische oder nur politische Aspekte, sondern um ein gesellschaftliches Grundverständnis: um die Frage, wie für das Leben im Alltag die vermeidbaren Hindernisse aus der Welt geschafft werden können. Und diese Arbeit beginnt im Kopf!

Für eine blinde Person noch machbar, für Rollstuhlfahrer unüberwindbar.
Bild: Damian Imhof, kurzschuss photography

Schon die Bundesverfassung der Eidgenossenschaft liefert die Grundlage dafür, in unserem Land Voraussetzungen für eine barrierefreie Umwelt zu schaffen. In der Präambel dieses Papiers, das für das gesellschaftliche Zusammenleben in der Schweiz massgebend ist, steht, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Ist damit der Bezug zur Barrierefreiheit etwas weit hergeholt? Ich denke nicht. Denn in der Bundesverfassung ist im Art. 8 weiter ausdrücklich die Beseitigung von Benachteiligungen der Menschen mit Behinderung erwähnt. Dieser Auftrag wurde dann im Jahr 2004 mit der Einführung des Behindertengleichstellungsgesetzes BehiG noch deutlicher formuliert.

Wo stehen wir nach bald zehn Jahren?
Mit diesem Instrument wird nun seit bald einem Jahrzehnt gearbeitet. Eine allgemein positive Entwicklung ist unbestritten erfolgt. Fortschritte erkennen wir beim öffentlichen Verkehr, aber auch bei Neu- und Umbauten. Ein weiteres Feld, in welchem der barrierefreie Zugang schrittweise vorwärts kommt, ist zweifellos die Kommunikation. Bereits davon reden zu wollen, dass die Barrierefreiheit heute eine Selbstverständlichkeit darstellt – das wäre dann allerdings schon übertrieben. Im internationalen Vergleich – diesen Eindruck geniesse ich bei verschiedenen Reisen ins Ausland immer wieder mal von Neuem – hinkt die Schweiz bisweilen doch noch etwas nach. Vielleicht auch deshalb, weil es der Haltung in diesem Lande entspricht, vieles einfach etwas pragmatischer anzugehen. So orientiert man sich bei uns oft lieber an der Verhältnismässigkeit statt an Vorschriften oder deren konsequenten Umsetzung.

Persönlich ist mir dieses liberale Denken in verschiedenen Lebensbereichen ja durchaus recht. Auch ich kann auf unnötige Gesetze verzichten; brauche nicht für dies und das überall Reglementierungen. Betreffend der Barrierefreiheit sehe ich das Ganze allerdings differenzierter. Hier gibt es keinen Spielraum, denn es gibt nur ein Entweder-Oder, schon gar nicht „ein bisschen“ barrierefrei. Diesen Punkt müssen sich Planer einmal definitiv merken. Denn auch eine kleine Schwelle kann schon ein grosses, da unüberwindbares Hindernis sein. Peinliche Diskussionen und auch teure Nachrüstungen lassen sich ersparen, wenn man die wirklichen Anforderungen vorher genau abklärt. Genau hinzuhören und hinzuschauen, mit den Ohren und den Augen, das sind für mich sowieso die wichtigsten Voraussetzungen für den offenen Dialog.

Kein grosszügiges Entgegenkommen
„Viele Barrieren bestehen im Kopf“ – das höre ich nicht selten. In diesen Worten steckt bereits eine gewisse Resignation, was sie für mich auch sehr irritierend machen. Sind es hier in speziellen Situationen einfach falsch geleitete oder noch nicht so weit entwickelte Gedanken, die zu gewissen Verhaltensmustern führen? Ich persönlich mag nicht permanent mit einem Forderungskatalog durch die Gegend rennen, in welchem ich darauf hinweise, welche Anpassungen es braucht, damit wir Menschen mit Behinderung im normalen Leben nicht beeinträchtigt sind. Auch will ich aber nicht von einem grosszügigen Entgegenkommen unserer Gesellschaft sprechen, wenn man auf unsere besonderen Bedürfnisse eingeht. Vielmehr erwarte ich von meiner modernen Gesellschaft, dass sie die Bereitschaft zeigt, diesen Weg als Zeichen einer klaren Grundhaltung gegenüber Menschen mit einer Behinderung zu gehen.

Auch das sind Barrieren: Schranken und Absperrungen
Bild: going underground, giftgruen, photocase.com

Gedanklich muss man sich da in unserem Land zweifellos noch viel bewegen. Die Unterstützung für Menschen mit einem Handicap entspringt – historisch gesehen – aus dem Fürsorgedenken. Dies möchte ich ausdrücklich nicht bewerten, sondern einfach aufzeigen. Entsprechend lange hat es gedauert, bis man den Betroffenen auch mehr selbstverständliche Selbstbestimmung zugestehen wollte. Damit war nicht nur die Frage aufgeworfen, ob man Menschen mit einer Behinderung zur Bewältigung des Alltags mehr Erleichterungen schaffen kann, sondern auch, wie das zu geschehen hat. Ist unsere Gesellschaft damit im Moment nicht überfordert? Wenn ich die politische Diskussion betrachte oder aktiv daran teilnehme, werde ich manchmal dieses Gefühl nicht los. Da sind tatsächlich noch Barrieren deutlich vorhanden…

Veränderung beginnt beim Einzelnen
Gedankenlosigkeiten lassen sich mit Gesetzen nicht verhindern. Diese Bemerkung fällt mir spontan ein, wenn ich Lösungsansätze für eine barrierefreie Welt skizziere. Die unendlichen Vorteile der Barrierefreiheit für die ganze Gesellschaft müssen gelebt werden; dann werden sie am besten erkannt. Der Zugang für alle darf nicht einfach ein billiger Werbeslogan sein, sondern muss einen starken Inhalt haben. Ein Leben mit Behinderung macht Sinn, da es uns Herausforderungen und Chancen zugleich aufzeigt. Was in der Schweiz zu verbessern gilt, sind die Perspektiven für Menschen mit einer Behinderung. Die Integration im Alltag, in der Schule, im Sport, bei der kulturellen Teilhabe – das sind alles Projekte, die weiterentwickelt werden müssen. Es lohnt sich deshalb insbesondere auch, sich stark für eine umfassende Behindertenpolitik in der Schweiz einzusetzen.

Der tägliche Kampf um die Gleichstellung muss keineswegs eine Verbitterung nach sich ziehen. Im Gegenteil soll die Motivation zu einer nachhaltigen Sensibilisierung der Gesellschaft wachsen: Warum entstehen Hindernisse? Wie gehe ich selbst mit Hindernissen um? Welches sind die schwierigsten Hindernisse? Indem ich mich mit diesen Fragen beschäftige, stelle ich schon weitere Überlegungen an und trage im Gespräch mit anderen dazu bei, den Prozess der Veränderungen einzuleiten. Der Ruf nach Barrierefreiheit ist nicht das Verlangen nach Sonderlösungen. Mitfühlen, mitdenken und mitgestalten – das sind in der Tat interessante Aktionsfelder für eine barrierefreie Zukunft.

Christian Lohr ist CVP-Politiker und Nationalrat aus dem Kanton Thurgau