Sehbehinderung im Alter: Experten warnen vor Verwechslungen

Was ist, wenn sehbehinderte Menschen an Demenz erkranken? Was, wenn Menschen mit Demenz sehbehindert werden? Der SZBLIND hat das Institut Alter der Berner Fachhochschule beauftragt diese Fragen in einer Expertise zu durchleuchten. Bislang geschieht einer Vielzahl von Menschen Unrecht. Dies muss verhindert werden.

Stefan Spring, Forschungsbeauftragter SZBLIND

Eine Strasse in Taipeh: Unklare und kaschierte Botschaften können bei der Demenzabklärung zu schwerwiegenden Verwechslungen führen. Bild: Tomás Fano

Eine Strasse in Taipeh mit vielen, bunten Strassen- und Ladenschildern mit chinesischer Aufschrift: Unklare und kaschierte Botschaften können bei der Demenzabklärung zu schwerwiegenden Verwechslungen führen.
Bild: Thomás Fano

An einem internationalen Seminar in Schweden im Herbst 2012 herrschte unter Fachpersonen Unmut über die Praxis mit der Tests zur Demenzdiagnose angewendet werden. Später liess ich mir sagen, dass Handbücher mit den gebräuchlichsten Tests den Hinweis enthalten, eine mögliche Sehbehinderung und/oder eine Schwerhörigkeit sowohl bei der Durchführung wie bei der Auswertung der Tests zu berücksichtigen. Soweit so gut. Aber wer liest schon das Kleingedruckte?

Viele ältere Menschen schlagen sich unauffällig mit ihren Sehschwierigkeiten durch den Alltag und gestehen diese weder Fachpersonen, noch Angehörigen und oft nicht einmal sich selber zu. Leider bestätigten dies erfahrene Kolleginnen und Kollegen in der Altersbetreuung. So sei vorerst folgen de Vermutung formuliert: Zwischen den Symptomen von psychogeriatrischen Erkrankungen (Demenzformen) und den Symptomen und Folgen von Sinnesbehinderungen können Vermischungen vorkommen, die sich negativ auf die Lebenssituation, die Unterstützung und die Betreuung von betroffenen Menschen auswirken. Sollte dies zutreffen, würden in der Praxis Demenzerkrankungen vermutet, wo es gar keine gibt. Aber wie sähe eine sehbehindertengerechte Demenzabklärung aus? Und wie könnten Versorgung und Betreuung organisiert werden, welche auch eine Sehbehinderung berücksichtigen?Das Institut Alter der Fachhochschule Bern ist im Rahmen einer Expertise diesen Fragen nachgegangen. Der Bericht dazu ist Mitte November erschienen und kann beim SZBLIND bezogen werden (siehe Info unten).

Eine gründliche Literaturanalyse und 15 Interviews mit Expertinnen und Experten in der Abklärung und Behandlung von Demenz (Memorykliniken), Allgemeinpraktikern und Fachpersonen aus dem Sehbehindertenwesen haben unsere Vermutung bestätigt: Das Bewusstsein, dass eine unter Umständen erfolgreich kaschierte oder auch manifeste Sehbeeinträchtigung in Wechselwirkung mit einer möglichen beginnenden Demenzerkrankung stehen kann, ist bei Geriatern und in Memorykliniken zwar da. In der Diagnostik neigen Fachärztinnen und -ärzte jedoch dazu, mögliche Multimorbiditätsfolgen zu unterschätzen. So werden in vielen Diagnosesituationen Seh- und Hörsehschädigungen nur oberflächlich abgeklärt. Speziell adaptierte Tests fehlen. Diesem Mangel wird in der Alltagspraxis begegnet, in dem bei Vorliegen einer Sehbeeinträchtigung in der Demenzdiagnostik, die an die visuelle Wahrnehmung gebundenen Testbestandteile weggelassen werden. Die so entstehenden Testresultate können jedoch nicht mehr mit den Normdaten verglichen werden.

Im Alltag dominieren je nach Fachdisziplin die Erklärungsmuster der Demenz oder der visuellen Störung. Zum Beispiel kann schon die bei einer Sehschädigung automatisch folgende Verlangsamung der Aktivitäten als Folge von nachlassenden Denkleistungen missverstanden werden. Das nachlassende Interesse am Lesen von Printmedien kann je nach Blickwinkel als Folge eines verminderten Sehvermögens oder als Folge der kognitiven Überforderung verstanden werden, ebenso das Verlegen und nicht Wiederfinden von Gegenständen.

Unabhängig vom Blickwinkel sind sich alle Experten darin einig, dass eine Demenzerkrankung kombiniert mit einer Seh- oder Hörsehbeeinträchtigung für die Betroffenen den Alltag und für die Fachleute die Behandlung massiv erschwert. Deshalb
müssen Angehörige von betroffenen Menschen bei der Abklärung und vor allem auch bei der Betreuung und späteren Pflege, das Fachpersonal auf eine allfällige Seh- oder Hörsehbehinderung aufmerksam machen und allfällige Wissensdefizite somit ausgleichen.

Sehbehinderungsfreundliche Pflege und Betreuung sind auch in geriatrisch ausgerichteten Institutionen wohl selten wirklich implementiert. Dabei sollten augen- und ohrenärztliche Untersuchungen Bestandteil des Eintrittes in jede Altersinstitution sein, in die Pflegeplanung einfliessen und müssten systematisch periodisch wiederholt werden.

Seh- und Hörsehbehinderungen bleiben auch im Alter unsichtbar, was für Betroffene schwerwiegende Folgen haben kann. Der SZBLIND wird die Resultate dieser Studie zum Anlass nehmen, die Situation von älteren Menschen mit Sehbehinde rung weiter zu untersuchen und sich für Beachtung auf allen Ebenen einsetzen. So werden wir genau prüfen, ob die demnächst publizierte  «Nationale Demenzstrategie» des Bundesrates eine möglicherweise gleichzeitig vorliegenden Sehoder Hörsehbehinderung beachtet. Zusammen mit Fachkreisen aus dem Bereich der Demenzerkrankungen werden wir vertiefende Interventionen und allenfalls weitere Studien planen, um auch in diesem wichtigen Bereich der Altersarbeit seh- und hörsehbehinderungsfreundliche Qualitäten zu erreichen.

Die Studie dazu
Demenz und Seh- / Hörsehbeeinträchtigungen. Eine Untersuchung zur wechselseitigen Beeinflussung von Demenz und Seh-/
Hörsehbeeinträchtigung in der Diagnostik bei älteren Menschen. Blaser R., Wittwer D., Berset J. & Becker S., 2013.
Bezug per E-Mail bei spring@szblind.ch.

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SZBLIND-Tagung «Älter werden und Sehbehinderung erfahren»
Die Tagung präsentiert die neuesten Studienergebnisse zu diesem Thema und fragt nach den
Folgen für die Dienstleistungen im Sehbehindertenwesen und den benachbarten Bereichen
der Pflege und Betreuung. Die Tagung findet am 14. März 2014 in Olten statt (in deutscher
Sprache mit französischer Simultanübersetzung).
Mehr Informationen und Anmeldung unter www.szblind.ch/angebot/weiterbildung/tagungen