Blinde und sehbehinderte Menschen müssen sich auf eine lückenlose und zugängliche Fahrgastinformation verlassen können, um selbstständig zu reisen. Trotz Behindertengleichstellungsgesetz ist das heute noch nicht umfassend der Fall.

von Annette Ryser

Auch für kurze Strecken brauchen Blinde den öffentlichen Verkehr.
Bild: Damian Imhof, kurzschuss photography

Sich im öffentlichen Verkehr zu bewegen, ist eine Herausforderung – nicht nur für behinderte Menschen. „Die Technik, die Vielzahl an Billettypen und möglichen Reisewegen überfordert auch manch normalsehenden Reisenden“, sagt Rahel Escher von der Interessenvertretung des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands SBV. Doch für behinderte Menschen sind die Schwierigkeiten ungleich grösser. Auch ihnen den öffentlichen Verkehr zugänglich zu machen, fordert daher das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) von 2004. Für die Verkehrsbetriebe ist das keine leichte Aufgabe, zumal sich die Bedürfnisse von blinden, sehbehinderten und mehrfachbehinderten Menschen noch zusätzlich unterscheiden. Sie bieten betroffenen Reisenden daher seit Langem verschiedene Vergünstigungen an. „Die ermässigte Nutzung des ÖV ist eine Leistung der Gesellschaft, welche die Benachteiligungen ein Stück weit ausgleicht“, erklärt Urs Kaiser, Vorstandsmitglied des SBV. Dazu zählen seit den 1960er-Jahren die Begleiterkarte, seit den 1970er-Jahren die VöV- Ausweiskarte sowie seit den 1980er-Jahren das ermässigte Generalabonnement. Die VöV- Ausweiskarte erlaubt die kostenlose Fahrt zusammen mit Begleitperson und Führhund. Sie ist nur ab einem bestimmten Behinderungsgrad erhältlich und gilt nur für den Nahverkehr bestimmter Städte. Begleiterkarte und GA sind verbreiteter.

Technische Anpassungen sind im Gange
Doch bei diesen kompensatorischen Vergünstigungen soll es nicht bleiben. Das BehiG gibt den Verkehrsbetrieben eine Rahmenfrist von zehn Jahren, um Kommunikationssysteme und Billetautomaten behindertengerecht umzugestalten. Ende 2013 läuft die Frist aus. „Leider weisen die akustischen Fahrgastinformationen heute noch Lücken auf, so dass sich eine blinde oder stark sehbehinderte Person auf ungewohnten Strecken gut organisieren muss, wenn sie alleine unterwegs ist“, sagt Rahel Escher. . Sie betont jedoch, dass sich viele Verkehrsbetriebe in den letzten Jahren stark um eine barrierefreie Lösung bemüht hätten. So teilen die SBB vor der Ankunft in grösseren Bahnhöfen via Lautsprecher die Ausstiegsseite und die Abfahrtsgeleise der Anschlusszüge mit. Ein weiteres positives Beispiel ist das Handyticket, das direkt aufs Telefon geladen werden kann. Umgekehrt kann modernere Technik aber auch Nachteile mit sich bringen. So werden etwa die Faltblattanzeigen, die auf den Gleisen den nächsten Zug ankünden, immer häufiger durch Digitalanzeigen ersetzt. Diese sind jedoch viel schlechter zu lesen, da der Kontrast schwächer und die Schrift kleiner ist.

Wie an das an Billet kommen?
Auch die modernen Touchscreens der Billetautomaten sind für blinde und sehbehinderte Reisende schwer bis nicht bedienbar. Um dieses Problem zu lösen, verfolgen die Verkehrsbetriebe zwei unterschiedliche Strategien. In Basel, St. Gallen und Bern setzt man auf die sogenannte Vier-Quadranten-Lösung. Dabei verfügt der Automat über einen vereinfachten Modus, mit dem die vier gängigsten Billette gelöst werden können. Laut Beat Schweingruber, Experte für barrierefreien ÖV, ist diese Lösung für Blinde aber eigentlich nur in der Kombination mit einer Sprachausgabe nutzbar: „Dies ist derzeit leider noch nirgends umgesetzt.“

Die SBB sowie der Zürcher Verkehrsverbund wollen die Automaten dagegen mit einer Sprechverbindung ausstatten. Der Reisende soll darüber Kontakt mit einem Call Center aufnehmen, das den Automaten beim Kauf des richtigen Billets helfen kann. Die SBB will ab Herbst 2013 rund 1000 ältere Automaten durch moderne Modelle ersetzen – die technischen Details sind noch nicht bekannt. Gemäss Anna Riva sollen die neuen Automaten aber die Vorgaben des BehiG erfüllen.

Parallel zu den Billetautomaten gibt es auch die Möglichkeit, sein Billett via Telefon bei Call Center Handicap zu lösen. Im Gegensatz zum Handyticket ist das Billet dann aber nicht auf dem Gerät gespeichert, sondern online in einer Datenbank hinterlegt, wo es vom Kondukteur abgerufen werden kann. “Die Lösung ist zwar bequem, führte in der Vergangenheit aber auch zu Problemen“, sagt Beat Schweingruber. Etwa für Reisende aus dem Ausland, die das System nicht kennen und beim Call Center nicht registriert sind. „Auch entbindet diese Lösung der Verkehrsbetriebe nicht von der Verantwortung, die Automaten für Behinderte zugänglich zu machen.“

Vergünstigungen werden wohl bleiben

Der Hund führt zwar zum Billetautomaten – aber Touchscreen macht den Kauf schwierig.
Bild: Damian Imhof, kurzschuss photography

Trotz allen Bemühungen – das Gesetz erlaubt den Verkehrsbetrieben auch einen gewissen Interpretationspielraum. So werden behinderte Reisende in der Zukunft sicher gleichberechtigter reisen können, vermutlich doch mit gewissen Qualitätseinbussen. „Grundsätzlich wollen wir nicht das Füfi und das Weggli“, sagt Rahel Escher. „Wenn Billetautomaten für blinde und sehbehinderte Personen zugänglich sind, dann sollen diese auch ein Billet lösen müssen. Vergünstigungen und Sonderlösungen werden aber wohl trotzdem bestehen bleiben.“ Auch die beste Technik werde Menschen mit einer Mehrfach- oder starken Mobilitätsbehinderung immer wieder vor unlösbare Aufgaben stellen. Ähnlich sieht es Urs Kaiser: „Selbst wenn der selbständige Billettbezug möglich ist, so ist der damit verbundene Aufwand für eine blinde Person um einiges grösser als für eine sehende.“ Dazu gehöre auch, dass der Automat ja zuerst einmal gefunden werden müsse. Zudem sei eine betroffene Person auch dort auf den ÖV angewiesen, wo ein Sehender das Fahrrad nimmt oder schnell zu Fuss geht.