Wie spätbehinderte Menschen von den Sozialsystemen diskriminiert werden

Von Stefan Spring

Die schweizerische Behinderungspolitik ist sehr stark durch das Invalidenversicherungs-Gesetz (IVG) geprägt. Die Invalidenversicherung will Armut aufgrund gesundheitsbedingtem Erwerbsausfalls bekämpfen. Wenn das Pensionsalter aber erreicht wird, endet das Konzept und mit ihm die Vorsorge.

Als 1959/1960 das Invalidenversicherungs-Gesetz (IVG) in Kraft gesetzt wurde, war es „eigentlich“ schon 35 Jahre alt. Denn schon 1925 wurde der Verfassungsauftrag dazu erteilt. Für die Nachkriegszeit war der Gedanke, eine Sozialversicherung einzuführen, welche die Folgen von schweren gesundheitlichen und bleibenden Schäden im Erwerbsalter auffängt, sicher zeitgemäss. Ich erinnere mich: Mein Vater erlebte noch, wie seine älteren Kollegen nach 45 Jahre Betriebszugehörigkeit mit einem „Goldvreneli“, Freibier und Gratiswurst in der „Bude“ pensioniert wurden. Bei der Pensionierung hatten Männer damals noch eine mittlere Lebenserwartung von 11 Jahren; Frauen durften sich erhoffen, zwei Jahre länger zu leben.

Eine Sozialversicherung ist ein Instrument der gesellschaftlichen Solidarität, das den Versicherten bestimmte Leistungen zuspricht – sofern ein Fall eintrifft, der diese Leistungen begründet. In diesem Sinne ist die Invalidenversicherung eines von mehreren Instrumenten der Behinderungspolitik der Schweiz. Mit ihren vielfältigen Instrumenten stellt sie die Betroffenen und deren materiellen Ansprüchen in den Vordergrund. Und daneben steht sie natürlich im Rahmen von Revisionsvorhaben und leider auch Sparmassnahmen immer wieder im Scheinwerferlicht.

Behinderungen nach der Pensionierung
Da die IV grundsätzlich auf den Ausgleich von Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen im Laufe des Erwerbslebens ausgerichtet ist, endet ihre Zuständigkeit mit dem Pensionierungsalter. Im Laufe der Zeit wurde versucht, dieses abrupte Ende der Zuständigkeit etwas zu korrigieren, vor allem, in dem man die Möglichkeit schuf, viele der Leistungen, die vor der Pensionierung bestanden, auch danach fortzuführen (Besitzstandwahrung). Tritt eine gesundheitliche Beeinträchtigung mit behindernden Folgen jedoch erst IM AHV-Alter ein, ist nicht mehr die Invalidenversicherung, sondern die Alters- und Hinterlassenen-Versicherung AHV massgebend.

Wie die Grafik zeigt, tritt eine Sehbehinderung bei sehr vielen Menschen erst nach dem Pensionierungsalter auf. Wir schätzen die Zahl betroffener Menschen auf 150‘000 bis 200‘000 Personen. Ähnlich viele sind wahrscheinlich von einer gravierenden Schwerhörigkeit betroffen. Nennen wir diese Personengruppe hier mal „Alterssinnesbehinderte Menschen“, so schrecklich das auch tönen mag.

Die Leistungen der IV, die ja für die Folgen von Behinderungen gedacht sind, entfallen somit für mehrere Hunderttausend Personen. Ihnen verbleiben lediglich die deutlich geringeren Leistungen der AHV. Logischerweise fällt der berufliche Aspekt mit der Pensionierung weg. Doch die Sozialversicherungen leiten daraus die seltsame Logik ab, sinnesbehinderte Menschen seien deswegen etwas weniger behindert.

  • Alterssinnesbehinderten Menschen wird maximal eine von drei Stufen von Hilfslosigkeit zugesprochen: Die Hilflosenentschädigung, die zur Deckung der behinderungsbedingten Mehrkosten konzipiert wurde, ist eingeschränkt, ungeachtet der Tatsache, dass sich die Sehbehinderungen mit dem Alter fast immer verschärfen.
  • Alterssinnesbehinderten Menschen wird der Assistenzbeitrag, der im Erwerbsalter berechnet wurde, eingefroren: Der Betrag dient aber der Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe. Soll die Teilhabe begrenzt werden, wenn im Alter eine Verschlechterung des Seh- oder des Hörvermögens eintritt? Kann ein selbstbestimmtes Leben nur mit dem immer und ewig gleich hohen Assistenzbedarf ermöglicht werden?
  • Alterssinnesbehinderten Menschen werden Hilfsmittel von geringerer Leistungsfähigkeit zugemutet: Die Versorgung mit Hilfsmitteln für seh- und hörsehbehinderte Menschen (Anschaffung bzw. leihweise Abgabe der Geräte und Schulung zur Nutzung) ist in der Invalidenversicherung umfassend geregelt und wird regelmässig den sich ändernden Situationen angepasst. Nachdem die Hauptsichtweise der IV – die berufliche Integration – entfällt, sollten nun aber Prinzipien der Gerontologie und der bundesrätlichen Alterspolitik eintreten, nicht zuletzt, um eine bestmögliche Autonomie im Alter zu fördern.
  • Weitere Benachteiligungen für Alterssinnesbehinderte Menschen sind bekannt aus den Bereichen der Punktschrift-Hilfsmittel und des damit verbundenen Punktschrift-Unterrichtes, der Kostenbeteiligung beim weissen Stock und der damit verbundenen Schulung, bei Abspielgeräten, Lese-Schreibsystemen und ihrer Software, Signalanlagen bei Hörsehbehinderung (z.B. Türglocken), u.a.m.
  • Ausserhalb der Hilfsmittelversorgung fallen auch die Betreuungsgutschriften oder die behinderungsbedingten baulichen Anpassungen in der Wohnung in die konzeptuelle Lücke zwischen Invaliden- und Altersversicherung.

„Halbe Hilfe“ reicht nicht aus
Polemisierend könnte man sagen: Während die Krankenversicherung nie auf die Idee käme, bei zwei erkrankten Beine nur eines mit einer Prothese zu versorgen, bezahlt die AHV bei zweiseitiger Schwerhörigkeit nur ein Hörgerät für ein Ohr. Die Folgen sind bei Seh- und Hörsehbehinderung tragisch: Eine ein“ohrige“ Versorgung mit Hörgeräten verbessert dann kaum die räumliche Wahrnehmung, die für die Sicherheit hör- und hörsehbehinderter Menschen dringend notwendig ist. Und für die zwischenmenschliche Kommunikation bringt die ein“ohrige“ Versorgung auch nicht den angestrebten Nutzen.

Heute werden Spätbehinderte diskriminiert: Das Alter bei Eintritt einer Behinderung kann nicht der entscheidende Faktor sein, ob die AHV eine Leistung gewährt – insofern sie die Rolle der IV nach dem 65. Lebensjahr auch wirklich übernehmen will! Tut sie das nicht, muss sich die Schweiz den Vorwurf gefallen lassen, es gebe keine Konzept zur Unterstützung der Menschen mit Behinderung im dritten und vierten Lebensalter. Leider sieht die zurzeit diskutierte Revision der AHV (Alterspolitik 2020) mit ihrem Fokus auf die Finanzierung und die Anpassung des Rentenalters auch keine Verbesserungen für altersbezogene Behinderungen vor.