eine Gruppe von Menschen steht barfuss in einem Kreis um einen von oben herabkommenden Sandstrahl herum und fühlen mit ausgestreckten Händen die Sandkörper auf ihre Hände rieseln.
Ein wichtiges Angebot der Fachstelle sind die Bildungs- und Freizeitanlässe. / Bild: Daniel Winkler

Vor 100 Jahren ist Hörsehbehinderung zum ersten Mal auch beim SZBLIND zum Thema geworden. Muriel Blommaert ist Leiterin der Fachstelle Hörsehbehinderung und Taubblindheit beim SZBLIND und erinnert sich noch genau an ihre erste Begegnung mit einer taubblinden Person. Auch wenn sich in der Sozialarbeit viel bewegt hat, ist ihre Fachstelle immer noch auf viele Freiwillige angewiesen.

von Michel Bossart

Als Muriel Blommaert vor 25 Jahren zum ersten Mal in Kontakt mit einer taubblinden Person kam, war sie Sozialarbeiterin in der Romandie beim SZBLIND. Sie erinnert sich: «Meine erste taubblinde Klientin war von Geburt an gehörlos und hatte noch ein ganz kleines Restsehvermögen. Ich musste mit ihr taktil kommunizieren, indem ich die Buchstaben mit meinem Finger in ihre Hand schrieb.» Was sie besonders beeindruckte: Die betagte Dame war trotz ihrer Beeinträchtigung sehr an ihrem Umfeld interessiert und sehr kontaktfreudig. «Ich war total unsicher und sie hat mich mit ihrer offenen Art ermutigt. Oft erriet sie die Wörter schon lange bevor ich den letzten Buchtstaben geschrieben hatte.» Blommaert war beeindruckt, wie es trotz der Beeinträchtigungen der Taubblindheit möglich ist, gut zu kommunizieren. Seit 2012 leitet sie nun die Fachstelle für Hörsehbehinderung und Taubblindheit des SZBLIND.
Archivkundig ist Taubblindheit beim SZBLIND seit 1924. Vor hundert Jahren ging es einerseits darum, taubblinden Menschen die Braille-Schrift und das taktile Alphabet (Blockschrift oder Lormen) beizubringen. Der Gebrauch der Gebärdensprache und somit auch der taktilen Gebärdensprache war bis in die 1980er Jahre verboten. Andererseits wollte man Betroffenen auch eine Möglichkeit zur Beschäftigung geben. «Damals waren das hauptsächlich Tätigkeiten wie Teppichweben und Korbflechten», sagt Blommaert.
Die Sozialarbeit für taubblinde Menschen hat sich seit den Anfangsjahren stark gewandelt. Im Jahr 1967 durften fünf Menschen mit einer kompletten Taubblindheit und begleitet von zwei Sozialarbeiterinnen zum ersten Mal eine Ferienwoche ausserhalb ihres Zuhauses im Wallis verbringen. Blommaert erzählt: «In den ersten drei Jahren wurde diese Auszeit in Zusammenarbeit mit dem Gehörlosenverband organisiert. Ab 1970 organisierte sie dann der SZBLIND exklusiv für taubblinde Menschen und das Eins-zu-eins-Betreuungssystem wurde eingeführt.» In den späten 1960er Jahren begann der SZBLIND auch damit, andere Freizeitaktivitäten zu organisieren: «Zu Beginn besuchten die soziokulturell geschulten Personen die taubblinden Menschen noch im eigenen Zuhause, später wurden kreative Gruppenaktivitäten ins Leben gerufen», sagt Blommaert. Diese Ferienaufenthalte und die Gruppenaktivitäten erlaubten es den Betroffenen, aus dem Haus zu kommen und Kontakte zu anderen Menschen mit derselben Beeinträchtigung zu knüpfen. «Der Schritt aus der Isolation war wichtig und richtig», findet Blommaert. «In den neu entstandenen Netzwerken entwickelten sich Freundschaften und eine Form von Selbsthilfe.»
Parallel zu diesen Entwicklungen gab es etwa ab 1975 für sehbeeinträchtigte Menschen neue Rehabilitationsdisziplinen: zum Beispiel Low Vision oder das Erlernen des Umgangs mit dem weissen Langstock. Vorher war man überzeugt, dass der Langstock für taubblinde Personen ungeeignet sei. Es ist nicht zuletzt das Verdienst von hartnäckigen Rehabilitationspionieren beim SZBLIND, dass hier ein Umdenken stattgefunden hat. Heute weiss man, dass der Langstock auch von taubblinden oder hörsehbehinderten Personen eingesetzt werden kann und dass Betroffene so ihre Selbstständigkeit vergrössern und verbessern können.

Die Wichtigkeit der Freiwilligenarbeit
In den 1970er Jahren führte der SZBLIND die Freiwilligenarbeit ein. Auch diese hat sich seither weiterentwickelt und wurde stetig professionalisiert und systematisiert. Schweizweit engagieren sich heute rund 250 vom SZBLIND ausgebildete Freiwillige: Rund 20‘000 Stunden Freiwilligenarbeit kommen so jährlich zugunsten von hörsehbeeinträchtigten Menschen zusammen. Freiwillige werden gründlich geschult und auf ihren Einsatz vorbereitet. Klienten und Klientinnen der Fachstelle Hörsehbehinderung und Taubblindheit des SZBLIND können von ihnen nach Bedarf Unterstützung in Anspruch nehmen. Sei es bei der Kommunikation oder beim Informationszugang, Hilfe beim Einkaufen oder anderen Freizeitaktivitäten. «Dies ist ein wichtiger Bestandteil der Förderung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und der Selbstbestimmung», zeigt sich Bommaert überzeugt.
Noch zu Beginn dieses Jahrtausends sprach man von zirka 1200 Menschen in der Schweiz, die von einer Hörsehbehinderung betroffen sind. Eine vom SZBLIND in Auftrag gegebene Studie geht heute davon aus, dass in der Schweiz rund 57‘000 Menschen von dieser Behinderungsform in stärkerer oder schwächerer Ausprägung betroffen sind. Tendenz steigend: Weil die Menschen im Schnitt immer älter werden, wird es auch immer mehr Betroffene geben. «Es ist wichtig, dass Taubblindheit und Hörsehbehinderung nicht nur bekannt sind, sondern auch erkannt werden», sagt Blommaert. Die Lebensqualität einer 85-jährigen Person kann wesentlich verbessert werden, wenn Sinnesbehinderungen erkannt werden und das Umfeld sich zum Beispiel in der Kommunikation mit Betroffenen anpasst. «Das ist auch im Pflegebereich wichtig, auch wenn dort die Zeit leider knapp ist», bedauert sie.
Umso wichtiger ist darum auch das Engagement der Freiwilligen. «Wir suchen immer Menschen, die sich für Begleitungen zur Verfügung stellen oder sich zur Kommunikationsassistenz ausbilden lassen. In der Westschweiz wird es ab September 2024 wieder eine entsprechende 20-tägige Ausbildung geben.»

Viele Stufen von Taubblindheit
Blommaert weist auf ein häufiges Missverständnis hin: «Wenn von Taubblindheit und Hörsehbehinderung die Rede ist, dann heisst das nicht, dass die Betroffenen gar nichts mehr hören und überhaupt nichts mehr sehen.» Vielmehr handle es sich um eine kumulative Hörsehbeeinträchtigung. Der Schweregrad der jeweiligen Beeinträchtigung verhindere unter Umständen die Kompensationstechniken von einem Sinn mit dem anderen. Die zwei Distanzwahrnehmungssinne – die Sicht und das Hören – ergänzen sich beim Menschen. «Wenn beide Sinne eingeschränkt sind, bringt das die Person in eine ganz besonders knifflige Lage», sagt Blommaert. «Wir symbolisieren diese Situation gewöhnlich mit der Gleichung 1 + 1 = 3», fügt sie an.
Es gebe auch nicht die eine Taubblindheit oder Hörsehbehinderung, fährt sie fort und präzisiert: «Je nach Grad der beiden Sinnesbeeinträchtigungen und je nachdem, wann sie im Leben der Person aufgetreten sind – zwischen der Geburt und dem Rentenalter –, sind die Realitäten äusserst unterschiedlich.» Eines sei aber allen Betroffenen gemein: Sie haben Schwierigkeiten in Bezug auf Kommunikation, Informationszugang und Mobilität. Die Fachstellenleiterin gibt zu bedenken: «Die Personen laufen darum Gefahr, isoliert zu werden, und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hängt stark von der individuellen Betreuung ab.» Wie vielfältig Taubblindheit ist, zeigt sich auch an den zahlreichen Arten, wie Betroffene kommunizieren. «Egal ob auditiv, visuell oder taktil – alle Kommunikationsarten sind für taubblinde und hörsehbehinderte Menschen ein Art Brücke, die es ihnen erlaubt, mit der Umwelt in Verbindung zu stehen».